[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007]
Auf der anderen Seite des Globus tut sich Gewaltiges. Aber was? Da werden die Städte gezeigt mit ihren Neureichen, mit den Malls, der neuen Mode und den umtriebigen
Künstler-UnternehmerInnen. Alles etwas fremd, etwas hip und in der Dosis der Reportage dann doch so vertraut. Dann dieses China im architektonischen Umbruch mit den täglich neuen Wolkenkratzern, dem Olympiastadion und den abscheulichen Neubauvierteln. Und selbstverständlich wird nie vergessen, auf die armen Mädchen in den Fabriken hinzuweisen, welche die giftigen Spielsachen produzieren müssen.
Was ist, wenn alle Chinesen Auto fahren? Die chinesische Gesellschaft fordert ihren Anteil am weltweiten Reichtum ein. Müssen wir dann teilen, verzichten, astronomische Preise für Energie zahlen? Wird die Atmosphäre das überleben?
In den späten neunziger Jahren hantierten bei uns die Kapitalisten oft erfolgreich mit der Drohung, die Fabriken nach China zu verlagern. Dann kamen die Billigelektroartikel, die heute nicht mehr ganz so billig und auch nicht mehr ganz so minderwertig sind. Derzeit wird «China» für die Ölpreise verantwortlich gemacht und morgen werden wir massive nationalistische Propaganda gegen das «chinesische» Finanzkapital erleben, das hier die Sahnestückchen kauft.
Wir erinnern uns an den Aufstieg Japans in den achtziger Jahren. Damals wurde uns allen ein schlechtes Gewissen gemacht, weil «die Japaner» schneller, länger, gewissenhafter arbeiten – und Begriffe japanischer Arbeitsorganisation halten sich mancherorts bis heute. Jetzt sind «die Chinesen» billiger, williger, geschäftstüchtiger und haben keine Gewerkschaft.
China also als Bedrohung, auch wenn anerkannt wird, dass die Weltkonjunktur auf dem chinesischen Wirtschaftswunder beruht. Nur wer die Zeitungen des Kapitals liest, erfährt, dass es da eine ganz andere Angst gibt. Nämlich vor dem Fall des Regimes in China und der damit drohenden Umwälzung der Verhältnisse. Verhältnisse, die jetzt noch Überausbeutung, Extraprofite, Fälschung und Umweltzerstörung, Armut und obszönen Reichtum, Korruption und Repression bedeuten, kurzum auf der Lohnarbeit beruhen.
Diese Angst ist berechtigt. Die chinesische Gesellschaft ist in Bewegung. Die neuen ArbeiterInnen, die städtischen ProletarierInnen, die Bauern kämpfen um eine bessere Gegenwart und vor allem um eine bessere Zukunft. Um diese bereits vor sich gehende Umwälzung geht es in diesem Heft.
«Gefährliche Klassen»
Auf welchem Stand sind die Kämpfe der drei «gefährlichen Klassen», der städtischen ArbeiterInnen, WanderarbeiterInnen und Bauern? Die immensen sozialen Umwälzungen seit Anfang der Reformen Ende der siebziger Jahre haben die alte Klassenzusammensetzung aufgemischt. Alle drei genannten Gruppen sind immer wieder in Bewegung und setzen durch ihre Forderungen nach einer Teilhabe am neu geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum und durch ihre Protestaktionen das Regime der Kommunistischen Partei Chinas unter Druck. Von außen ist es oft wenig sichtbar, aber diese Aktionen haben zumindest dazu geführt, dass sich die Lebensbedingungen nicht nur der städtischen Mittelschicht sondern der meisten Leute in China in den letzten dreißig Jahren verbessert haben. Es gibt fast keinen Hunger mehr und viel mehr Leute haben Zugang zu wichtigen Konsumgütern. Das bedeutet allerdings nicht, dass alles glatt läuft. Gerade die Umwandlung vieler staatlicher Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit) in Waren, die bezahlt werden müssen – auch Kommodifizierung genannt –, führte zu einer Verknappung von Ressourcen, die sich obendrein viele nicht mehr leisten können, wie sich in der Gesundheitsversorgung zeigt.
Die offiziellen Zahlen der Regierung sagen uns, dass die sozialen Unruhen seit Mitte der neunziger Jahre stetig zugenommen haben, mit derzeit jährlich Hunderttausenden von Konflikten und vielen Millionen Beteiligten. Dabei kommt es sowohl zu immer mehr institutionell abgesicherten, legalen Formen des Protestes (wie Petitionen, Anrufen von Schlichtungsstellen, juristischen Auseinandersetzungen) als auch nicht-institutionellen Formen (wie Demonstrationen, Blockaden, Streiks). Die einzelnen sozialen Auseinandersetzungen sind in der Regel auf einen Betrieb, einen Ort oder Stadtteil beschränkt, finden noch getrennt und nebeneinander statt. Es gibt kaum offizielle Organisierungsformen, und wenige ArbeiterInnen versuchen von sich aus, ihre Kämpfe
auszuweiten, weil die beteiligten AktivistInnen der Repression nicht ins offene Messer laufen wollen. Sie wissen um die Grenzen und Gefahren. Aber wo immer es möglich scheint, setzen sich ArbeiterInnen und Bauern für ihre unmittelbaren Interessen ein und warten nicht erst auf eine größere Bewegung oder gemeinsame Mobilisierung. Soziale Unruhen sind verbreitet und die Leute greifen schnell zu kollektiven Aktionen. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen über die Verhaltensweisen und die Kämpfe zirkulieren durch die Wanderung, über ihre Familien und andere Kontakte, über die neuen Kommunikationsmittel wie Handys und Internet.
Momentan scheint es aber keinen Anlass und kein Ziel für eine neue Bewegung zu geben – anders als 1989, als die Besetzung des Tian’anmen-Platzes durch die StudentInnen den Rahmen zu einer landesweiten Mobilisierung gab, an der sich auch viele ArbeiterInnen beteiligten. Erneuter gesellschaftlicher Aufruhr dieser Art wird durch die unterschiedlichen Bedingungen der Ausgebeuteten und diverse Spaltungsmechanismen behindert. Die Anlässe für soziale Kämpfe sind verschieden, weil die rasant wachsende Wirtschaft nicht nur neue Subjekte, sondern damit auch eine ganze Reihe unterschiedlicher sozialer Brennpunkte geschaffen hat: soziale Degradierung und die Beseitigung sozialer Absicherung, prekäre Jobs, ungezahlte Löhne, Arbeitsunfälle, Verseuchung von Luft, Wasser und Boden, Landraub. Weiterhin gibt es eine Trennung zwischen Land- und Stadtbewohnern, auch wenn das in den fünfziger Jahren eingeführte Haushaltsregistrierungssystem (hukou) durch die Wanderungsbewegungen immer mehr aufgeweicht wird. Das Verhältnis von Stadt- und Landbewohnern, aber auch gegenüber «Fremden» aus anderen Provinzen oder Ortschaften ist oft durch Ablehnung geprägt. Vom Maoismus nicht aufgebrochene, patriarchale Verhältnisse bestimmen weiter die Geschlechterbeziehungen, wobei es auch hier einen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. Zudem hat es zwar einen Übergang vom sozialistischen Zwangskollektivismus in ein kapitalistisches Lohn- und Kontrollsystem gegeben, die strikten Arbeiterhierarchien
und der Fabrikdespotismus blieben aber in «modernisierter» Form bestehen.
Schauen wir uns die Erfahrungen der drei «gefährlichen Klassen» genauer an: Die Bauern, chinesisch nongmin, immer noch die größte gesellschaftliche Gruppe in China (etwa 700 Millionen), waren in den achtziger Jahren zunächst Nutznießer der Reformen. Die Volkskommunen wurden aufgelöst und jede Familie erhielt das Recht auf Zuweisung und Nutzung eines Stückes Land, das weiter dem Staat gehört. Die ländlichen Einkommen stiegen, ihre Situation besserte sich. Nach und nach bekamen sie aber auch die neuen Härten zu spüren: Preiserhöhungen und die Kommerzialisierung des Bildungs- und des Gesundheitssystems fraßen die Einkommenszuwächse wieder auf. Bei den Bauern gilt heute die Regel, dass eine einfache Krankheit den Verlust eines Schweins, eine mittlere Krankheit den eines Jahreseinkommens und eine schwere Krankheit für die Familie den Ruin bedeutet. Die größere wirtschaftliche Autonomie der lokalen Behörden führte nicht nur zur Entwicklung einer vom lokalen Staat unterstützten ländlichen Akkumulation, sondern auch zur Herausbildung einer gnadenlosen lokalen Staatsmafia, die sich durch immer neue Steuern und Abgaben für die Bauern bereichert und aufmüpfige LandbewohnerInnen verfolgt und erniedrigt. Die größten Probleme aber sind der Landraub, die oft entschädigungslose Enteignung der Bauern durch korrupte Beamte, die das Land für Infrastrukturprojekte, Industrie- oder Wohngebiete nutzen oder verkaufen, sowie die Verseuchung und Unbrauchbarmachung von Land durch Industrieabfälle, versickernde Flüsse und andere Formen der Umweltzerstörung. Es soll schon über vierzig Millionen landlose Bauern geben, von denen in den letzten Jahren viele aufbegehrten, zunächst oft durch Beschwerden und Petitionen, aber wo diese scheiterten, durch gewaltsame Aktionen und Angriffe auf Kader und Rathäuser. Sie wollen ihr Land verteidigen, da es weiterhin ihre einzige «Sicherheit» ist gegen den in Zeiten des Sozialismus allgegenwärtigen Hunger, an den sie sich noch gut erinnern können.
Bei den ArbeiterInnen lassen sich weiter grob zwei Arbeiterklassen unterscheiden: zum einen wurden die «alten» staatlichen Industriesektoren umstrukturiert und etwa fünfzig Millionen StaatsarbeiterInnen im nördlichen Rostgürtel und anderswo aus ihren garantierten Jobs gedrängt. Viele von ihnen kämpfen gegen ihren Ausschluss und den Verrat durch den sozialistischen Staat. Zum anderen wurden aus Teilen der Bauernschaft neue proletarische Subjekte geschaffen, die über hundert Millionen mingong oder BauernarbeiterInnen, die umherziehen und arbeiten. Sie kämpfen gegen ihre Ausbeutung und Diskriminierung. Diese zwei Gruppen repräsentieren den Tod des alten und die Geburt des neuen Ausbeutungsregimes. Beide Klassen sind in sich nicht homogen, denn es gibt jeweils nach Sektor, Region oder Herkunft der Betroffenen große Unterschiede bezüglich Arbeitsbedingungen, Lebensstandard, Zukunftsaussichten, Wünschen, Problemen, Kampfmöglichkeiten. Bei den mingong reicht das zum Beispiel von Arbeit unter sklavenähnlichen Verhältnissen in Werkstätten oder Minen in armen Binnenregionen bis hin zu vergleichsweise hoch entlohnten Facharbeiterlöhnen in den industriellen Zentren wie Shanghai. Aber trotzdem lassen sich die «alte» und die «neue» Arbeiterklasse ausmachen, trennen sie doch unterschiedliche Erfahrungen mit dem Staat, ein anderer Status durch ihre Registrierung als Stadt- oder Landbewohner, und damit zusammenhängend ihre Lage als Proletarisierte oder Semi-Proletarisierte.
Die «alte» Arbeiterklasse sind zum einen die noch in staatlichen Unternehmen, in der Industrie, in Dienstleistungsbereichen und Verwaltungen arbeitenden gongren, zum anderen die xiagang, die «Abgewickelten», dort bereits Entlassenen. Sie wohnen und arbeiten in der Stadt und verfügen außer ihrer Arbeit (oder staatlichen Wohlfahrtsleistungen) über keine Einkommensmöglichkeiten. Ihr Verhältnis zum Staat ist durch einen Jahrzehnte lang geltenden Sozialvertrag geprägt, der ihnen im staatlichen Betrieb, der danwei, Wohnungen, Kranken- und Altersabsicherung, eben die komplette «Eiserne Reisschüssel» garantierte. Seit die Regierung 1997 die Schließung vieler danwei und die Entlassung der vorher lebenslang angestellten ArbeiterInnen beschloss, haben Millionen ihren Job verloren. An den Entlassungen, Firmenbankrotten und Privatisierungen entzünden sich nun immer neue Kämpfe. Konkret geht es dabei oft um die Bedingungen und Begleitumstände der Umstrukturierung oder Privatisierung, wie um ausbleibende Löhne, Abfindungen, Renten und Arbeitslosengeld. Die Kämpfe werden in ihren Wohnvierteln organisiert, welche die Zerlegung der staatlichen Betriebe überdauert haben. In den Protesten spielen die bisherigen betrieblichen und sozialen Hierarchien eine Rolle, die Vorarbeiter, Meister, lokale Verwalter oder Partei- und Gewerkschaftsführer. Sie benutzen nicht selten eine vom KP-Jargon und der Kulturrevolution geprägte Sprache, um sich gegen ihre «Enteignung» zu wehren. Schließlich waren sie bisher die «Herren der Fabrik», die Stütze des kommunistischen China. Die letzte große Mobilisierung, die auch die Begrenzung auf einen Betrieb oder einen Ort sprengte, fand im Frühjahr 2002 in Nordostchina statt, eine Streik- und Protestbewegung von staatlichen Erdöl- und Stahlarbeitern, mit «illegalen» Organisationsstrukturen, Demontrationen und Besetzungen. ArbeiterInnen in anderen Gegenden ließen sich durch dieses Vorbild inspirieren. Die Bewegung wurde durch staatliche Repression zerschlagen, angebliche Rädelsführer sitzen heute noch im Knast.
Die «neue Arbeiterklasse» der ArbeitsmigrantInnen oder mingong ist vor allem durch die Verlagerung von Industrien in die Sonderwirtschaftszonen Chinas und die (Semi-)Proletarisierung eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung entstanden, die es seit Anfang der achtziger Jahre in die Städte zieht. Diese mingong arbeiten unter anderem als FabrikarbeiterInnen, Bauarbeiter, Straßenhändler, Sexarbeiterinnen, Dienstmädchen. Sie sind die Träger des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, und diejenigen von ihnen, die in den Weltmarktfabriken arbeiten (vor allem junge Frauen) und dort Kleidung, Spielzeug, Elektrowaren, Elektronik und Autoteile produzieren, gehören zu den wichtigsten Akteuren der zeitgenössischen Globalisierung. Die Bedingungen in den Fabriken – und auch in den anderen Bereichen, in denen mingong arbeiten – sind erschreckend: überfüllte Wohnheime, niedrige Löhne und häufiger Lohnbetrug, lange Arbeitszeiten und Überstunden, repressives Management, willkürliche Strafen bei Verstößen, fehlende soziale Absicherung. Vieles davon widerspricht den chinesisches Arbeitsgesetzen, aber die zuständigen lokalen Behörden handeln in den seltensten Fällen, wollen sie doch potentielle Investoren nicht verschrecken – wenn sie nicht selbst als Teilhaber oder Geldgeber von der Ausbeutung profitieren.
Die mingong kommen trotzdem in die Stadt. Sie vergleichen ihre prekäre Lage mit dem Leben ihrer Eltern und Großeltern – also mit der Not unter der Guomindang vor 1949, dem Hunger beim «Großen Sprung nach Vorn» und der Armut und den Verfolgungen während der Kulturrevolution. Sie wollen der materiellen und kulturellen Rückständigkeit auf dem Land entfliehen. Wenn die jungen Leute vom Dorf heute in die Industriestädte des Ostens kommen und zwölf Stunden am Tag und ohne freies Wochenende für fünfzig bis hundert Euro im Monat malochen, dann ist unsere Assoziation Manchester-Kapitalismus und sweatshop, aber sie selber erleben nicht nur die Ausbeutung, die miesen Vorarbeiter und die giftigen Dämpfe in der Fabrikhalle, sondern auch die Möglichkeit, Freunde oder Freundinnen zu finden und am modernen Konsum teilzuhaben – wozu erst mal Internet, Handy oder Makeup gehören mögen. Besonders für die Frauen zählt zudem die im Vergleich zum patriarchalen Dorf geringere soziale Kontrolle. Dazu kommt, dass ihr Lohn oft nicht nur sie selbst ernährt, sondern auch noch den Verwandten ermöglicht, auf dem Dorf ein Haus zu bauen, was ihnen wiederum mehr Raum und Bedeutung in der Familie verschafft. Viele wollen nicht mehr dauerhaft zurück aufs Land – oder erst, wenn sie genug Geld verdient haben, um sich mit Ehepartner und Kind niederzulassen, was ihnen wegen ihres ländlichen hukou und ihrer prekären materiellen Lage in der Stadt weiterhin schwer gemacht wird.
Das heißt aber nicht, dass sie die Situation in der Stadt hinnehmen. Die Zahl der Kämpfe der mingong nahm in den letzten Jahren zu. Es geht gegen Lohnbetrug und die Arbeitsbedingungen, wie Strafen, Arbeitstempo, und immer häufiger auch gegen lange Überstunden, Gesundheitsschäden, schlechte Wohnheime und so weiter. Die Verbindungen aus der alten Heimat (Familien, Dorfstrukturen) spielen in diesen Kämpfen gegen die Fabrikbosse ebenso eine Rolle, wie schon bei der Suche nach Arbeit, beim Zurechtfinden in den Industriestädten. Die mingong kennen den alten Sozialvertrag der städtischen gongren nicht. Sie kämpfen hier und heute für ihre Rechte, gegen Diskriminierung als WanderarbeiterInnen mit ländlichem hukou. Sie haben gegenüber den StädterInnen einen Vorteil, können sie doch wieder aufs Dorf, wenn sie entlassen werden, einen Unfall haben oder um ihren Lohn betrogen werden, weil sie und ihre Familie in der Regel noch Anrecht auf das Stück Land haben, dass sie in der Not ernähren könnte.
Tendenzen
Die «gefährlichen Klassen» Chinas tasten beim Überqueren des Flusses nach den Steinen, sie experimentieren mit Widerstandsformen. In Zeiten des Umbruchs, der institutionellen Instabilität und des Fehlens funktionierender Kanäle für die Lösung sozialer Probleme haben ihre Kämpfe Chancen, den Gang der Ereignisse entscheidend zu verändern.
Die angesprochene Teilung in zwei Arbeiterklassen prägt noch die gegenwärtige Situation, könnte sich aber mehr und mehr auflösen. Es gibt Anzeichen, dass die mingong zu dauerhaften BewohnerInnen der Städte werden. Viele haben ihren Landanspruch bereits durch Entwicklungsprojekte und Betrügereien verloren, und noch ist offen, ob die zweite und dritte Generation nicht in der Stadt bleiben und damit die Verbindung zum Land und ihren Status als Semi-Proletarisierte aufgeben wird. Vor allem die zweite Generation, ob sie als Kind noch das Elend auf dem Land erlebt hat oder ganz in der Stadt aufgewachsen ist, hat oft keine Lust, aufs Land zu ziehen. Während die mingong mittelfristig vollständig proletarisiert werden könnten, wird die alte Arbeiterzusammensetzung in den Städten aufgelöst und ein Teil davon prekarisiert. Diese «Arbeitlosen» und informellen ArbeiterInnen machen schon dieselben Jobs wie die mingong, wie Straßenhandel, Bauarbeit, Wachschutz. Auch in den staatlichen Fabriken ändert sich die Zusammensetzung der ArbeiterInnen. Dort werden zunehmend mingong eingestellt, vor allem für die dreckigen und harten Jobs, und die StädterInnen bekommen nur noch befristete Arbeitsverträge, allerdings weiterhin meist mit etwas höheren Löhnen, sozialen Garantien und Privilegien.
Die genannte Spaltung zwischen «Einheimischen» und «Zugereisten» wirkt weiter, aber es ist offen, was passiert, wenn die mingong als dauerhafte StadtbewohnerInnen erfolgreich ihre Ansprüche geltend machen. Sie lernen schnell, mit dem Stadt- und ArbeiterInnenleben zurecht zu kommen, nutzen die Verbindungen untereinander und bringen ihre Erfahrungen in die sozialen Kämpfe in der Stadt und auf dem Land ein. Schon in den letzten Jahren haben sie es geschafft, ihre Bedingungen zu verbessern. Neben ihren Kämpfen spielt dabei auch der Arbeitskräftemangel eine Rolle, über den chinesische und ausländische Kapitalisten in den letzten Jahren klagen. Obwohl jährlich zehn bis fünfzehn Millionen Arbeitskräfte auf dem Land freigesetzt werden und die Arbeitslosigkeit in der Stadt hoch ist, finden sich in manchen Regionen – wie dem Perlflussdelta – nicht mehr genügend ArbeiterInnen für ihre beschissenen Jobs. Die Fluktuation in den Betrieben ist enorm hoch, und die heutige Generation von Wanderarbeitern ist sehr viel ungeduldiger und anspruchsvoller als ihre Vorgänger. Sie verkauft ihre Arbeitskraft zu einem höheren Preis, wo immer das geht. Firmen müssen sich entsprechend mehr Mühe geben, Leute zu halten, indem sie zum Beispiel bessere Unterkünfte bauen oder Freizeitmöglichkeiten bieten.
Und die Bauern? Sie werden sich weiter mit Landraub, Korruption und der Abgabenlast rumschlagen müssen. Aber sie stehen auch unter dem Einfluss der Ereignisse in den Städten: In jeder Bauernfamilie gibt es Verwandte, die als mingong unterwegs sind. Zudem waren viele Bauern früher schon mal selber länger in der Stadt zum Arbeiten, und viele sind regelmäßig auf dem Land oder in Kleinstädten auf Baustellen und in Betrieben beschäftigt. Auch wenn sich die Bedingungen auf den Äckern und in den dörflichen und kleinstädtischen Unternehmen von denen in städtischen Unternehmen und Weltmarktfabriken unterscheiden mögen, für ein Zusammenkommen in den Kämpfen stehen die Voraussetzungen gar nicht schlecht. ArbeitsmigrantInnen und städtische ArbeiterInnen teilen die Erfahrung der Unterdrückung und Auspressung – und den Hass gegen die Kapitalisten, die Reichen und die korrupten Beamten. Schon heute haben die Kämpfe aller den lokalen Staat im Visier, und es ist fraglich, wie lange der Zentralstaat noch die Rolle des Vermittlers spielen kann, wenn er sich als unwillig (und unfähig) zeigt, die Probleme der Ausbeutung, Korruption und Willkür zu lösen.
Krisenmanagement
Das Regime spürt die Gefahr einer sozialen Explosion. Bisher gelang es ihm, durch ein geschicktes Krisenmanagement den Sprengstoff immer wieder zu entschärfen und die Entstehung einer starken Klassenbewegung zu verhindern.
Der Staat reagiert auf Kämpfe mit einer Mischung aus Konzession und Repression. Die seit 2003 regierende Partei- und Staatsführung maß den sozialen Problemen und Konflikten gezwungenermaßen mehr Bedeutung bei als ihre Vorgänger. Sie versuchte, die Diskriminierung von WanderarbeiterInnen (zum Beispiel durch willkürliche Verhaftungen) abzubauen und Sozialprogramme aufzulegen, welche die sozialen Folgen der Kommodifizierung der Arbeitskraft lindern – oder mindestens eine Linderung in der Zukunft versprechen. Beschwerden und Petitionen sowie eine öffentliche Diskussion
über soziale Missstände und Probleme sind in Grenzen erlaubt, zeigen sie den Machthabern doch, wo gefährliche Situationen entstehen, so dass sie reagieren können. Nach entsprechender öffentlicher Empörung über Korruption und Misswirtschaft werden gerne einzelne Beamte oder Unternehmer als Sündenböcke verantwortlich gemacht und abgesägt. Wirtschaftlichen Forderungen protestierender ArbeiterInnen oder Bauern kommen die Behörden oft entgegen, zum Teil nach Intervention und finanzieller Hilfestellung der Provinz oder Zentrale.
Hier spielen auch die verteilten Rollen der verschiedenen Machtebenen des Staates eine Rolle. Wenn Auseinandersetzungen nicht mehr zu leugnen oder schnell zu unterdrücken sind, wird die Wut auf lokale und regionale Verantwortliche und Kader geleitet, damit die Zentralregierung – und damit das Regime an sich – nicht ins Zentrum der Kritik gerät. Dahinter steht, dass die lokalen Stellen im Zuge der Reformen die Entscheidungsgewalt über ihre wirtschaftlichen Aktivitäten erlangt haben und versuchen, in ihrer Region die Akkumulation anzukurbeln und auf hohem Niveau zu halten. Deswegen unterstützen sie das despotische Fabrikregime, die niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Der zentrale Staat versucht dagegen, über gesetzliche Rahmenvorgaben und politische Entscheidungen die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer von ihm so genannten «Sozialistischen Marktwirtschaft» vorzugeben und dabei die Vernutzung der ArbeiterInnen – also die Unbrauchbarmachung ihrer Arbeitskraft – über entsprechende Gesetze zu verhindern. Das widerspricht aber dem Akkumulationsstreben der lokalen Behörden, die systematisch diese Gesetze unterlaufen. Die ArbeiterInnen oder Bauern treffen in ihren Kämpfen also auf den lokalen Staat als direkt Verantwortlichen, als Besitzer oder Teilhaber der Betriebe, als weisungsbefugte Behörde von mit den Kapitalisten verbundenen Beamten. Der zentrale Staat dagegen erscheint ihnen als oberste Instanz, die ihre gerechte Sache aufnehmen und sie gegen die lokalen Schergen verteidigen sollte.
Ob lokal oder zentral, das Regime steckt genaue Zonen von Indifferenz, Toleranz und Inakzeptanz ab. Während Petitionen oder kurze Streiks in einem Betrieb geduldet werden, treffen betriebsübergreifende Formen des Protestes auf harte Reaktionen des autoritären Staates. Auf lokaler Ebene versuchen die Kader, die Ausbreitung von Aktionen zu verhindern, indem sie diejenigen, die als Rädelsführer gelten, verhaften lassen oder private Sicherheitskräfte oder Schläger anheuern, um Protestierende anzugreifen und auseinander zu treiben. Wo ArbeiterInnen in verbotene Zonen vorpreschen, wie in Liaoyang 2002, wo es um fabrikübergreifende oder politische Mobilisierungen geht oder die Bildung unabhängiger Gewerkschaften, antwortet der Staat mit brutaler Unterdrückung. Der Aufbau einer Aufstandsbekämpfungspolizei dient darüber hinaus dem Ziel, die vielen sozialen Mobilisierungen mit ihren Demonstrationen und Riots in den Griff zu kriegen.
Die Repression prägt die gesellschaftliche Situation in China insgesamt, bedeutet jedes dem Regime störende Verhalten doch die mögliche Anwendung von Gewaltmaßnahmen. Dabei unterscheiden die Behörden und Richter in maoistischer Tradition, ob die «Delinquenten» sich «gegen die Gesellschaft» stellen und als deren «Feinde» gelten, oder ob sie «Teil der Gesellschaft» bleiben und ihnen «umerziehbar» scheinen. Zu ersteren zählen sie alle eines Verbrechens beschuldigten «Kriminellen» ebenso wie Dissidenten oder die ArbeiteraktivistInnen, denen die Regierung Landesverrat vorwirft, weil sie mit ausländischen JournalistInnen sprechen. In der Regel wandern sie nach einer Gerichtsverhandlung ins Gefängnis, dem laogai, was etwa Veränderung durch Arbeit bedeutet. Daneben gibt es bisher noch ein System, das sich laojiao nennt, Erziehung durch Arbeit. Leute, von denen angenommen wird, sie stehen weiter «innerhalb der Gesellschaft» und lassen sich nach entsprechender Behandlung wieder eingliedern, können ohne Gerichtsbeschluss auf Antrag der Polizei bis zu drei Jahre in ein Umerziehungslager gesteckt werden. Das trifft nicht nur Leute, denen einfache Eigentumsdelikte vorgeworfen werden, sondern auch viele ArbeiterInnen, die in sozialen Auseinandersetzungen auffällig geworden sind. Dieses System soll seit Jahren reformiert werden. Aber die Behörden und Kader haben auch andere Möglichkeiten, störende Leute loszuwerden, zum Beispiel durch die zwangsweise Einweisung in die Psychiatrie.
Die angesichts der immensen sozialen Umwälzungen noch relativ stabile Lage lässt sich nicht nur mit Repression erklären. Tatsächlich braucht auch das autoritäre Regime Chinas eine Legitimationsbasis. Deswegen ist das Vertrauen, das viele ArbeiterInnen und Bauern noch in die Zentralregierung setzen, so wichtig. Die Einführung eines kapitalistischen Systems mit privaten Akteuren und Entscheidungsträgern macht zudem eine gewisse Verlässlichkeit und Rechtssicherheit für eben diese Akteure notwendig, ohne die ein entwickelter, kapitalistischer Wirtschaftsprozess nicht funktioniert. Wachstum und Marktliberalisierung schaffen aber soziale Probleme und unterminieren die Legitimation des Regimes.
Das Regime versucht, durch gesetzliche Regelungen und materielle Interventionen in soziale Auseinandersetzungen, diese Legitimation zurückzuerlangen, ohne die Profitabilität zu gefährden. Vor allem braucht es die Unterstützung der sogenannten Mittelklasse. Diese setzt sich weitgehend aus Abkömmlingen der alten Eliten des KP-Regimes und des Militärs und der gebildeten, städtischen Verwaltungsschicht zusammen, die alle den Umbau genutzt haben, um sich einen Teil des neuen (und des alten) Reichtums zu sichern. Die Mittelklasse hat nach den sozialen Verwerfungen der sechziger und siebziger Jahre, in denen die Intelligenzia ebenso wie ein Teil der Parteikader ständig Angriffen ausgesetzt war und um ihre Privilegien bangen musste, keine Lust auf irgendwelche Experimente, die ihren materiellen Aufstieg in Gefahr bringen könnten. Einige aus der heutigen Mittelklasse waren auch am letzten Versuch beteiligt, eine Teilhabe an der politischen Macht Marke «westliche Demokratie» durchzusetzen, der aber im Juni 1989 am Beijinger Tian’anmen Platz von Panzern zermalmt wurde. Jetzt hat die Mittelklasse den Kopf in den Sand gesteckt oder gar die neue KP-Hymne von der «Harmonischen Gesellschaft» gefressen, die nichts anderes ist als ein verzweifelter Versuch, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie durch einen rhetorischen Rückgriff auf den reaktionären Konfuzianismus gesellschaftliche Stabilität herbeizuflehen. Gleichzeitig ist es eine Aufforderung an alle, sich ruhig zu verhalten, eine Drohung an die Unterdrückten, die Harmonie der Ausbeuter nicht zu stören.
Ob dies lange funktionieren kann, ist nicht ausgemacht. Die Hauptakteure des chinesischen Wirtschaftswunders, die in den Weltmarktfabriken arbeitende «neue» Arbeiterklasse, hat mit Streiks, Riots und sonstigen Protesten Ansprüche auf eine Verbesserung ihrer Lage angemeldet. Wenn aus den Kämpfen der mingong, der gefährlichsten aller Klassen, eine Bewegung werden sollte, wäre das eine ganz andere Bedrohung für die KP-Herrschaft als die Tian’anmen-Bewegung oder die Verteidigungskämpfe der StaatsarbeiterInnen in den Rostgürteln.
Allerdings stellt sich die Frage, ob aus den vielen kleinen und lokalen Auseinandersetzungen eine große Welle von Arbeiterunruhen entstehen kann, oder ob sie weiter als Sicherheitsventile funktionieren, welche immer wieder den Druck rausnehmen. Damit bleibt also erstmal offen, ob und wann es zu einer sozialen Explosion in China kommt. Und es ist auch unklar, ob in den sozialen Auseinandersetzungen in China die Wurzeln einer Bewegung liegen, die über China hinaus – also weltweit – die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann.
China ist zurück
Weltgeschichte ist schneller geworden. Innerhalb kurzer Zeit hat sich China von einem isolierten armen Land wieder zu einer Weltmacht entwickelt. Chinas politischer Einfluss wächst mit seinem wirtschaftlichen Gewicht. Es ist inzwischen die drittgrößte «Volkswirtschaft». Das chinesische Wirtschaftswunder mit seinen immer noch zweistelligen Wachstumsraten trägt die Weltkonjunktur. Vor allem amerikanische Firmen – von Wal-Mart bis Mattel – sind die Auftraggeber für die südkoreanischen oder taiwanesischen Subunternehmer, die in ihren Schwitzbuden die Arbeit der WanderarbeiterInnen kommandieren. Jetzt beginnen auch die Investitionen derjenigen ausländischen Firmen, die auf den Markt in China gesetzt haben (Chemieindustrie, Maschinenbau) Gewinn abzuwerfen.
Bislang ist China ein stabilisierender Faktor in der Weltwirtschaft. Bei der Asienkrise 1997/98 hat die Regierung die Nerven behalten, seine Währung nicht wie fast alle anderen Länder im süd- und südostasiatischen Wirtschaftsraum abgewertet und damit einen noch größeren Schaden im internationalen Kapitalmarkt verhindert. Der chinesische Staat hält 1.400 Milliarden US-Dollar an Devisen. Bislang war das meiste davon in US-Staatsanleihen festgelegt. Staatsanleihen sind Schuldverschreibungen, also nur das Versprechen, später zu bezahlen. Damit stützt China direkt den Dollar, auch wenn der derzeit steigende Euro von einer Umschichtung der Devisen durch die asiatischen Zentralbanken – einschließlich Chinas – zeugt.
Der engen wirtschaftlichen Verflechtung von China mit den USA – und der etwas weniger engen mit Westeuropa – entsprechen gute politische Beziehungen. Beim medialen «Streit» über Menschenrechte geht es um gemeinsame oder unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, so zum Beispiel im Verhältnis zum Regime in Burma (Myanmar), zu dem China intensivere Wirtschaftsbeziehungen hat.
Europa und die USA unterhalten in China nicht nur Kultureinrichtungen, sie finanzieren nicht nur mit Zustimmung der chinesischen Regierung einige große NGOs, sondern die USA unterhalten auch ein Büro des FBI in Beijing, und man erkennt die jeweilige Liste der Terrororganisationen der anderen Seite an.
Alles in Ordnung? Weit entfernt. Abseits der Frage, ob mit China eine neue Hegemonialmacht am Horizont erscheint oder das nächste «amerikanische Jahrhundert» zu Ende geht, bevor es richtig begonnen hat, können wir die aktuelle Geschichte genauer beobachten.
Am Beispiel der Leichtindustrie (von Schuhen bis Spielzeug) kann beobachtet werden, dass sich die Umwälzungen beschleunigen. Auf der Suche nach den billigsten Arbeiterinnen begann Nike die Produktion Anfang der sechziger Jahre in Japan; als dort die Löhne stiegen, wurde die Produktion in den siebziger Jahren nach Südkorea verschoben. Gerade die Frauen der Schuhindustrie spielten dort eine hervorragende Rolle beim Sturz des Militärregimes. Die Fabriken wurden 1989 nach Indonesien, aber auch schon in die neuen Sonderwirtschaftszonen in China verlagert.
1997/98 kam die Asienkrise, die vor allem Indonesien traf. Die Währung verlor achtzig Prozent ihres Wertes mit der Folge, dass die indonesischen ArbeiterInnen plötzlich die billigsten der Welt waren. Aber sie verteidigten ihren Lebensstandard mit unzähligen Streiks und anderen Aktionen. Etwa Anfang 2000 flüchtete die Bekleidungsindustrie nach China, zum Teil nach Vietnam. Mit ihr Teile der Schuhindustrie.
Nach wenigen Jahren in den Südostprovinzen Chinas dann erneute Schwierigkeiten. Diesmal waren es nicht die Löhne im engeren Sinne, die blieben dort lange hinter denen in anderen Teilen des Landes zurück. Aber genau das war das Problem: die mingong gingen nach Shanghai oder Beijing und für die Textil-/Schuhindustrie im Südosten war plötzlich die Ware «frische weibliche Arbeitskraft» knapp geworden. 2006 meldete Li&Fung, einer der größten Textilhändler der Welt, dass sie immer mehr Aufträge nach Bangladesh und Kambodscha vergeben würden – China hätte seinen Wettbewerbsvorteil verloren.
In Japan und Südkorea gelang es, die Energie der Arbeiterklasse in den Aufbau moderner Schwer-, Automobil- und Computerindustrie zu lenken. In beiden Ländern konnte der Lebensstandard der Weltspitze erreicht werden. Aber das geschah in Phasen, in denen die Weltwirtschaft unabhängig von Japan oder Südkorea expandierte.
Darauf kann China als Lokomotive der Weltkonjunktur nicht hoffen. Die Erfahrung anderer Entwicklungsdiktaturen zeigt, dass sie nur solange von ihren Leuten geduldet werden, solange sie eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen aufrechterhalten können.
Noch beruhen die Wachstumsraten auf der Ausbeutung der billigen jungen ArbeiterInnen, die vor allem Teile zusammenbauen, die in anderen Ländern gefertigt werden. Die zunehmenden Kämpfe der ArbeiterInnen am «Fließband der Welt» deuten bereits an, dass diese Wachstumsphase ein schnelles Ende haben kann.
Um den Boom in China aufrechterhalten zu können, braucht es jetzt Rohstoffe für eine Industrie, die höherwertigere Jobs anbieten kann. Und tatsächlich sind die Staatsbetriebe überall auf der Welt auf der Suche. Sie kaufen, was noch zu haben ist. Kupferminen in Chile, Ölquellen in Afrika usw.
In der Nickelmine Ramu in Papua Neuguinea, im Besitz der staatseigenen China Metallurgical Construction, enthüllte ein Streik Anfang des Jahres dermaßen katastrophale Arbeitsbedingungen (Lohn, sanitäre Einrichtungen und vor allem keinerlei Arbeitsschutz), dass sogar die ansonsten nicht gerade arbeiterfreundliche Regierung den Entzug der Schürfrechte androhte, sollte die Situation nicht umgehend verbessert werden. In Indonesien, mit dem China inzwischen beste Kontakte pflegt, ist die PetroChina (oder eine ihrer vielen Töchter) bei so vielen Erdgasprojekten dabei, dass im Parlament starke Kräfte fordern, wenigstens ein Viertel der Ressourcen für den nationalen Bedarf zu sichern.
Um besser für zukünftige Störungen der Wirtschaft gewappnet zu sein, ist das Regime in China dabei, seine Finanzpolitik grundlegend zu ändern. Die bisher langfristig festgelegten Devisen werden aktiviert – und auch als Geldkapital im Ausland investiert.
Dabei geht es um zwei Dinge. Einerseits ist es die Lehre aus der Asienkrise von 1997/98, bei der sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass aus Europa, den USA und Japan viel zu viel Geld dorthin gepumpt worden war, in der Hoffnung, sich an der Ausbeutung der billigen asiatischen Arbeitskraft beteiligen zu können. Ein Teil dieses Geldes konnte aber keine produktive Anlage finden und diente der Bereicherung der herrschenden Cliquen oder auch zur Ruhigstellung der Bevölkerung. Es wurde «verbraucht», was zur Schwächung und schließlich zum Zusammenbruch der Währungen führte.
Anderseits geht es der chinesischen Regierung darum, dieses Kapital flexibler zu machen, um auf Störungen besser reagieren zu können. Zu diesem Zweck dient ein in diesem Jahr aufgelegter Fonds mit einem Kapital von 200 Milliarden Dollar – er ist im Westen schon als «Staatsheuschrecke» bezeichnet worden. Und tatsächlich könnte dieses Geld im Krisenfall relativ schnell von irgendwo abgezogen und zum Stopfen eigener Löcher verwendet werden.
Man kann annehmen, dass die chinesische Regierung vor allem die im rasanten Wachstumsprozess angelegten internen Krisen im Auge hat. Dies könnte zum Beispiel ein Crash der Shanghaier Börse sein, bei dem Millionen Chinesen, die im Moment «mit Aktien spielen», ihre Ersparnisse verlieren würden.
Es ist nicht die Angst vor der wirtschaftlichen Krise an sich, die die Regierung und das Weltkapital umtreibt. Viel stärker fürchten sie Aufstände wie 1989 in Beijing. Die zahllosen kleinen Riots, Demonstrationen und Streiks seither haben gezeigt, dass die Menschen in China auf jede Zumutung reagieren, die ihre Hoffnung auf ein besseres Leben stört. Trotz massiven Stellenabbaus in den Staatsbetrieben, trotz Arbeitslosigkeit, ohne Gewerkschaften oder anderer vergleichbarer politischer Organisierung konnten sie eine Erhöhung des Lebensstandards durchsetzen. Allein in diesem Jahr sind die städtischen Löhne um achtzehn Prozent gestiegen.
Es ist nicht schwer, hinter all den beschleunigten Bewegungen der drei Ebenen – produktives Kapital, Jagd nach Futter für den Boom und Finanzkapital – den Klassenkampf in seiner mannigfaltigen Gestalt zu erkennen. Die Organisierung der Ausbeutung in China erfordert immer neue und immer mehr Anstrengungen.
In den USA und in Europa reicht es offenbar, mit einer nur langsamen Verschlechterung der Lebensbedingungen Stabilität zu erhalten. In China braucht es eine schnelle Verbesserung. Beides hängt nicht nur, aber vor allem von den Wachstumsraten der chinesischen Ökonomie ab, Wachstumsraten, von denen niemand weiß, wie sie auf Dauer aufrecht erhalten werden können.
Mit anderen Worten: Wie lange werden die chinesischen ArbeiterInnen die Tretmühle des «Fließbandes der Welt» antreiben und sich mit den wirtschaftlichen und politischen Brosamen begnügen, die ihnen dafür vom Weltkapital und der Regierung zugeworfen werden?
Linke (und) Perspektiven
Kommen wir zur Frage der politischen Linken in China und hier und wie die sozialen Kämpfe in China unterstützt werden können. In China ist es zwar gang und gäbe, über soziale Probleme, die Interessen der ArbeiterInnen und die Möglichkeiten für eine bessere Welt zu diskutieren, unter ArbeiterInnen wie mit Intellektuellen. Aber in diesen Diskussionen schwingen die Erfahrungen mit, die in China mit sozialen Mobilisierungen gemacht wurden. Die Kulturrevolution bleibt, wie erwähnt, Teil des kollektiven Gedächtnisses und begründet das Misstrauen vieler gegenüber radikalen Forderungen oder Versuchen. Die Exzesse der Roten Garden gegen Intellektuelle und andere sind genauso traumatisch wie der Eingriff der Roten Armee und die Vertreibung der rebellischen Jugend aus der Stadt.
In China finden sich viele Leute, die im privaten Rahmen das Regime geißeln, sich über die Partei lustig machen oder ihre Wut gegen die korrupten Kader und menschenverachtenden Fabrikbesitzer herausschreien. Aber wenige wagen das öffentlich. Es gibt nicht diese Form demokratisch-repressiver Toleranz, die uns in einigen Ländern der Welt erlaubt, relativ offen unsere Meinung zu sagen. In China herrscht eine Form diktatorischer Repression, welche die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei zu sichern sucht und jede Form organisierter, politischer Gegenwehr niedermacht – ob sie nun anarchistisch ist oder irgendwie westlich-demokratisch.
Für kritische Geister bedeutet dies, dass sie sich eher innerhalb oder nah an der Partei organisieren können, in Form linker, intellektueller Kreise oder neo-maoistischer Gruppen, die für eine Stärkung von Arbeiterinteressen im Rahmen der gegebenen Ordnung eintreten. Innerhalb der Partei gibt es eine «Neue Linke», die eine Art anti-imperialistischer Position vertritt, gegen den von der USA dominierten weltweiten Neoliberalismus. Sie will einen starken chinesischen Staat, der Chinas Interessen in einer globalisierten Welt vertritt und im Inneren den Auswüchsen der Ausbeutung Grenzen setzt. Arbeiterkampf ist bei ihnen lediglich ein Verteilungskampf.
Leute, die revolutionäre Positionen vertreten, können dies nur verdeckt tun, in Form von Unterstützungsgruppen für WanderarbeiterInnen oder andere Gruppen, die protestieren und sich wehren. Sie lassen Informationen über deren Kämpfe zirkulieren, im Internet oder auf der Straße. Die Polizei versucht, dies zu unterbinden. 30.000 staatliche Schnüffler sollen allein das Internet durchforsten, auf der Suche nach missliebigen Texten aus dem In- und Ausland. Aber diese linken AktivistInnen sind wenige. Die meisten chinesischen ArbeiterInnen, ob in den Rostgürteln des Nordens oder den Weltmarktfabriken des Südens, bekommen wenig mit von der Solidarität linker Gruppen.
Daran haben auch die Unterstützungsversuche von Hongkong aus wenig geändert. Hongkong gehört mittlerweile zur Volksrepublik China, aber als Sonderverwaltungszone mit «Versammlungs- und Meinungsfreiheit», in der kritische politische Gruppen auftreten können. Dort hat sich eine kleine Szene von AktivistInnen unterschiedlicher politischer Couleur etabliert, die sich mit den sozialen Auseinandersetzungen in der Volksrepublik beschäftigt und versucht, sich einzumischen. Dazu gehört eine akademische Linke, die sich die Untersuchung der sozialen Lage und der Kämpfe in China vorgenommen hat. Einige der Ergebnisse dieser Forschungen werdet ihr in diesem Heft wiederfinden. Eine Reihe von NGOs versucht zudem, die soziale Situation von ArbeiterInnen und Bauern in China zu verbessern, indem sie auf die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen, Umweltstandards und so weiter drängt. Die ProtagonistInnen setzen vor allem auf juristische Beratungen von betroffenen ArbeiterInnen und Bauern, auf Fabrikinspektionen oder Konsumentenboykotte. Das ist auch eine Art der Anpassung an die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse, da die Unterstützung von Protesten schwierig und gefährlich sein kann. Darüber hinaus versuchen einige Linke und BasisaktivistInnen – zum Teil auch über NGOs – Kontakte zu ArbeiterInnen aufzubauen und Informationen über die Lage und die Kämpfe in China und weltweit zu verbreiten. Ihr Ziel ist, die ArbeiterInnen in China selbst in die Lage zu bringen, sich besser zur Wehr zu setzen und
eigene Aktionen zu organisieren. Sie zählen nicht auf juristische Unterstützung und Boykotte, sondern auf die Erhöhung des Klassendrucks durch die Kämpfe selbst.
Und außerhalb Chinas? In den letzten Jahren sind – vor allem durch das größere Interesse am Aufstieg Chinas und den Berichten über soziale Kämpfe dort, zum Teil im Rahmen der so genannten Anti-Globalisierungsbewegung – mehr Kontakte entstanden zwischen Gruppen in Hongkong/China und anderen Ländern. Diese Versuche stehen am Anfang und müssen die Sprachschwierigkeiten, die staatliche Repression und die räumlichen Distanzen überwinden.
In der westlichen Linken herrscht weiterhin eher blankes Erstaunen über die rasante Umwälzung und eine Konfusion bei der Einschätzung der Lage in China vor. Für die einen hat der Kapitalismus nun auch das maoistische China erfasst, andere halten China weiter für sozialistisch, wieder andere sehen nur die steigenden Zahlen sozialer Auseinandersetzungen und setzen Hoffnungen auf eine große Kampfwille in China, aber ohne die Situation dort genau zu kennen. Da gilt es einiges geradezurücken.
Wenn wir die Neuigkeiten über Kämpfe und Bewegungen einordnen und die Chancen auf eine Ausbreitung und Radikalisierung der Auseinandersetzungen abschätzen wollen, brauchen wir mehr direkte Kontakte zu AktivistInnen, ProletarierInnen und Bauern in China, und einen Austausch über die eigene Lage, die Vorstellungen von einer Verbesserung, von einer Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung.
Wir können davon ausgehen, dass Ostasien mit Schwerpunkt China sich als ein Zentrum der kapitalistischen Produktion, aber auch der Kämpfe etablieren wird. Wie diese Kämpfe aussehen werden, wissen wir nicht. Es könnten wieder Bewegungen entstehen, die sich nicht mehr durch Propaganda, Repression und Arbeitslager einschüchtern lassen. Möglicherweise werden aber weiterhin nationalistische und andere spalterische Elemente eine wichtige Rolle spielen. Hier wird es wichtig sein, Leute in China zu finden und zu unterstützen, die sich dem entgegenstellen und der Repression ein Schnippchen schlagen.
Außerhalb Chinas können wir versuchen, mehr Informationen über die Auseinandersetzungen in China zu verbreiten, und mehr direkte Kontakte und einen Austausch über proletarische Erfahrungen und Kämpfe zu fördern. Das gilt nicht nur für China, sondern auch für Länder wie Indonesien, die Philippinen, Südafrika oder Brasilien. Wir müssen öfter hinfahren und mehr übersetzen und zirkulieren lassen… und uns daran gewöhnen, dass die Rufe der Kämpfenden in Tagalog, Bahasa Indonesia oder Zhongwen um den Globus hallen. Das Heft soll eine Annäherung sein, ein Aufriss. Wir wollen alle LeserInnen auf eine Reise durch die sozialen Gefilde Chinas mitnehmen, die verstehen wollen, was dort passiert. Und vielleicht bringen wir einige dazu, sich selbst in dieses Abenteuer zu stürzen und weiter anzunähern an die dortigen Umwälzungsprozesse.