[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007; siehe auch den dortigen Beitrag Gesichter der Wanderung – Lage und Proteste der «neuen» Arbeiterklassen]
«Auf der Unteren Mittelschule haben wir einiges über marxistische Theorie gelesen. Als die Lehrer uns den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft erläuterten, erwähnten sie auch die unmenschliche Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Damals haben wir das nicht begriffen. Aber seit ich nach Shenzhen gekommen bin, um zu arbeiten, kapiere ich allmählich, wie Kapitalisten die Arbeiter und Arbeiterinnen unterdrücken und ausbeuten.» (Arbeitsmigrantin in Shenzhen, Pun/Li 2006)
Mit der Entwicklung Chinas zum «Fließband der Welt» in den achtziger und neunziger Jahren entstanden in den Ostküstenprovinzen industrielle Ballungsgebiete und Sonderwirtschaftszonen. Über einhundert Millionen vor allem junge Leute wurden vom Land in diese Städte gesogen oder drängten dorthin, weil sie für sich ein höheres Einkommen und bessere Lebensbedingungen erwarteten. Vor allem in den beiden südlichen Metropolen des Jangtse-Deltas um Shanghai und in den Provinzen Fujian und Guangdong haben sich viele Städte zu urbanen Industriezonen entwickelt, die nach den Bedürfnissen des Fabriksystems und des internationalen Warenverkehrs strukturiert sind.
In den Fabriken arbeiten die MigrantInnen vom Land, deren Leben sich deutlich von dem der alten Arbeiterklasse im Sozialismus unterscheidet. Diese ArbeiterInnen werden oft dagongmei (arbeitende Schwestern) und dagongzai (arbeitende Söhne) genannt. Der geschlechtsneutrale Begriff des gongren, des an der «Eisernen Reisschüssel» sitzenden sozialistischen Arbeiters, wurde also ersetzt durch einen geschlechtsspezifischen Begriff, der gleich in doppeltem Sinne deren Zweitklassigkeit ausdrückt. Das dagong entspricht dem deutschen Anglizismus «jobben». Es drückt Flüchtigkeit und Geringfügigkeit aus und beschreibt einen zweitklassigen Nebenjob für einen privaten Kapitalisten, anders als gongzuo, das Wort für vollwertige Arbeit in einem staatlichen Betrieb. Die Beschreibung der Personen als mei, kleine Schwester, und zai, Sohn, deutet auf jugendliche, unerfahrene ArbeiterInnen in nachgeordneter Stellung. Zusammengenommen beschreiben sie die jungen WanderarbeiterInnen als Hilfskräfte und Ungelernte, als informell und ungeschützt. Gleichzeitig sind sie es, die in den Weltmarktfabriken für die ganze Welt Konsumgüter produzieren, von Elektronik über Spielzeug bis zu Strümpfen, und eine zentrale Rolle in den internationalen Produktionsketten einnehmen. Was aber denken die dagongmei und dagongzai selber über ihr Leben und ihre Zukunft?
Zwei Autorinnen aus Hongkong haben durch ihre Untersuchungen und Interviews vor allem mit den dagongmei Einblicke in deren Leben als Frauen, Migrantinnen und Arbeiterinnen verschafft.
Ching Kwan Lee hat in ihrer Untersuchung in zwei Elektronikfabriken eines Konzerns in Hongkong und Shenzhen herausgearbeitet, wie sie in den neuen Fertigungsstätten des Perlflussdeltas einem «despotischen Fabrikregime» unterworfen werden, das sich die prekäre Lebenslage der dagongmei zunutze macht (Lee Ching Kwan, 1998: Gender and the South China Miracle. Two Worlds of Factory Women. Berkeley/London).
In einem späteren Buch zeigt sie dann, wie sich die dagongmei zusammenfinden, und gegen die Ausbeutung und Diskriminierung kämpfen, obwohl sich an ihrer prekären Lage seit den neunziger Jahren wenig geändert hat. In diesem Buch untersucht sie sowohl die Kämpfe der WanderarbeiterInnen in Shenzhen als auch die der StaatsarbeiterInnen im nördlichen Rostgürtel von Liaoning und schaut auf die Hintergründe dieser getrennten Proteste (Lee Ching Kwan, 2007: Against the Law. Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt. Berkeley/London).
Pun Ngai begann ihre Untersuchung ebenfalls in einer Elektronikfabrik in Shenzhen und zeigt, wie sich das Leben der neu angekommenen Arbeiterinnen abspielt (Pun Ngai, 2005: Made in China. Women factory workers in a global workplace. Durham, NC). Bestimmt von den Ausbeutungs- und Machtbeziehungen des Fabrikregimes sehen sie sich mit den harten Arbeitsbedingungen, den endlosen Arbeitstagen und gefährlichen oder giftigen Produktionsabläufen konfrontiert. Sie leben in überfüllten Wohnheimen in einer feindlichen urbanen Umwelt und müssen als Neulinge erst neue Freundinnen finden und lernen, sich zurechtzufinden. Wie andere ArbeiterInnen weltweit lernen sie langsam, die Spaltungen untereinander zu überwinden und sich den Angriffen der Fabrikdirektoren entgegenzustellen, was in Widerstandsaktionen in der Fabrikhalle, Bummelstreiks und Streiks seinen Höhepunkt findet. Allerdings bleibt das ein langwieriger und widersprüchlicher Prozess, mit vielen Rückschritten und nur erträglich, weil die dagongmei oft die Fabrik wechseln, wenn die Bedingungen inakzeptabel sind.
Pun Ngai hat später zusammen mit Li Wanwei ein weiteres Buch herausgebracht, eine Sammlung persönlicher Lebenserfahrungen von sechzehn dagongmei, beruhend auf den Interviews mit diesen Frauen (Pun Ngai/Li Wanwei, 2006: Shiyu de husheng. Zhongguo dagongmei koushu. Beijing; auf Deutsch: dagongmei – Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. 2008). Das Buch zeigt ihren Werdegang in all seiner Widersprüchlichkeit: die Notwendigkeit, aus dem Dorf fortzugehen, um Geld zu verdienen, zugleich der Wunsch, was von der Welt zu sehen und am modernen Stadtleben teilzunehmen; die Flucht aus dem Dorf vor dem langen Arm der patriarchalen Familie, gleichzeitig die Hoffnung, nach einigen Jahren Arbeit zur Familie zurückzukehren, zu heiraten und Kinder zu haben. Die jungen Frauen wollen ihren eigenen Weg finden, aber ihr in der Stadt verdientes Geld schicken sie oft nach Hause, wo es nicht nur ein wichtiger Teil des Familieneinkommens ist, sondern ihnen als Frauen auch einen besseren Status gibt. Gegen arrangierte Ehen, die despotischen Vorgesetzten und die Ignoranz und Diskriminierung durch die lokalen Behörden finden sie Wege des Widerstands und versuchen trotz der Ausbeutung und Repression durch den sozialistischen Staat und die neuen und alten Kapitalisten für ihren Traum von einem unabhängigen und sorgenfreien Leben zu kämpfen.
Beide Autorinnen zeigen, wie hier eine neue Arbeiterklasse entsteht, wie junge Frauen sich neue Möglichkeiten erkämpfen, die hoffen lassen, dass sie nicht ebenso bittere Erfahrungen machen werden wie ihre Mütter und Großmütter. Das verbindet sie mit den dagongmei in anderen asiatischen Staaten oder den lateinamerikanischen Maquiladoras.