[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007]1
Die Weltgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ist – neben der Verschiebung des kapitalistischen Zentrums von Europa nach Nordamerika – von Entwicklungsdiktaturen dominiert. Von China bis Lateinamerika, von Indonesien bis Afrika waren Partei- und Militärdiktaturen an der Macht, deren vorrangiges Ziel war, eine eigenständige industrielle Entwicklung mit mehr oder weniger Gewalt durchzusetzen.
In der Geschichte fast aller Entwicklungsdiktaturen können drei Phasen unterschieden werden: Dekolonialisierung unter nationalistischen Regimes mit mehr oder weniger liberaler bürgerlicher Demokratie (zum Beispiel Sukarno in Indonesien von 1945 bis 1965). Nach dem Scheitern dieser Versuche kamen dann Militärregimes oder die KP an die Macht. Beide stützten sich ausdrücklich auf die Bauern oder doch auf die relative Ruhe auf dem Land. Die Mittel für die industrielle Entwicklung sollten durch Ausbeutung der Landbevölkerung freigesetzt werden. Mittel, um die Lebensbedingungen in der Stadt zu sichern und Maschinenimporte zu bezahlen. Die letzte, noch andauernde Phase ist der Fall dieser Diktaturen. Es liegt nahe, 1989 als Schnittpunkt anzusetzen: Fall der Berliner Mauer und der Aufstand in Beijing. Zwar fielen vorher schon die Diktaturen in Kamerun, Brasilien und die Marcos-Diktatur auf den Philippinen. Danach aber folgen ganz Osteuropa, Südkorea, Thailand, Indonesien, Nigeria.
Nicht überall entstanden stabile bürgerliche Demokratien – dort, wo die Diktaturen eben nicht erfolgreich gewesen waren, Landflucht und Proletarisierung nur Verelendung gebracht hatten und deshalb keine breite Arbeiterklasse entstanden war, entstand das, was als «failed state», als «zusammengebrochene staatliche Ordnung» bezeichnet worden ist (zum Beispiel Somalia, Afghanistan).
Um die Entwicklung in einem Land zu verstehen, kann es sinnvoll sein, ein anderes Land zum Vergleich heranzuziehen. Wir wollen hier zwei Länder gegenüberstellen, die auf den ersten Blick eine völlig andere Geschichte und Rolle in der Weltpolitik hatten. In China regiert die Kommunistische Partei, Indonesien war und ist die antikommunistische Speerspitze in Südostasien.
China und Indonesien haben viele, auch grundlegende Unterschiede. Das liegt zum einen an den durchaus unterschiedlichen Voraussetzungen aufgrund der Kolonialgeschichte – China war nur relativ kurz kolonisiert, Indonesien dagegen seit Jahrhunderten. In China musste der Nationalstaat als solcher nicht hergestellt werden, sondern hat Jahrtausende Tradition. In Indonesien konnte er nur aus dem Ausbeutungszusammenhang der Kolonialgeschichte aufgebaut werden. Und weiter unterscheiden sich beide Länder in geografischer Hinsicht (Festland gegen Inseln), in den natürlichen Voraussetzungen (fruchtbares Ackerland oder Urwald im tropischen Indonesien, viele Wüstengebiete in China; darüber hinaus ist Indonesien relativ reich an Bodenschätzen). Der wichtigste Unterschied ist natürlich der ideologische – «Kommunismus» gegen Antikommunismus und als Folge davon die größere Isoliertheit Chinas von 1949 bis in die neunziger Jahre gegenüber dem Westen. Die Menschen selbst waren in beiden Ländern von der Welt abgeschnitten. Einen Reisepass oder eine Ausreisegenehmigung zu kriegen war nur einer kleinen Schicht vorbehalten und die Nachrichten über die Welt unterlagen der Zensur.
Umso mehr mag es überraschen, dass es so viele parallele, ja sogar ähnliche Erscheinungen gibt. Wenn wir also eine rein ideologische Brille absetzen, können wir zwei Entwicklungsdiktaturen vergleichen – nicht historischem Interesse wegen. Es geht darum, die Vergangenheit zu verstehen, um sich auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Grob darum: Indonesien zeigt, wie andere Entwicklungsdiktaturen auch, dass sie nur solange von ihren Leuten geduldet werden, solange sich deren ökonomische Situation stetig verbessert. Soeharto wurde sofort gestürzt, als Indonesien tief im Strudel der Asienkrise versank. Das kann auch als eine der möglichen, ja wahrscheinlichen Entwicklungen für China angenommen werden. Aber was kommt danach?
Indonesien
Wie im ganzen pazifischen Raum war es die Niederlage Japans, die ab 1945 die Entkolonialisierung Indonesiens eingeleitet hat. 1945 wurde einseitig die Republik erklärt, die alte Kolonialmacht Niederlande stellte allerdings ihre Kontrolle wieder her. Es folgte ein Guerillakrieg bis 1950, als die Niederlande die Unabhängigkeit Indonesiens anerkannten. Der Nationalismus – also die politische Absicht, auf den Tausenden von Inseln und mit Hunderten von Ethnien eine gemeinsame Gesellschaft aufzubauen, war letztlich das einzige, worauf sich die übergroße Mehrheit der Bevölkerung einigen konnte. Ansonsten war sie gespalten in traditionellen und modernen Islam sowie in eine im Westen ausgebildete Elite und eine weitgehend analphabetische Bauernbevölkerung. Die Regierungen unter Sukarno versuchten es erst mit parlamentarischer Demokratie, später mit «gelenkter Demokratie». Die Streitkräfte bildeten von Anfang an die am besten organisierte Gruppe; ihr Einfluss nahm stetig zu in internen Auseinandersetzungen mit radikalislamischen Aufständen (in Westjawa) und Gegenregierungen (in Südsumatra und Sulawesi). Auf der anderen Seite wuchs der Einfluss der Kommunistischen Partei (Partai Komunis Indonesia, PKI), vor allem auf dem Land und dort vor allem in Zentral- und Ostjawa. Der KP gelang es, gegen die anfänglich nur langsame ökonomische Besserung die Politik der Selbsthilfe zu organisieren mit der Folge, dass ganze Dörfer Mitglied wurden – wenn die Mehrheit weniger religiös war. Dort wo der Einfluss religiös-islamischer Kräfte größer war, wuchs auch der Einfluss der islamischen Parteien.
Anfang der sechziger Jahre hatte die KP 2 Millionen Mitglieder, der ihr nahestehende Bauernverband mehr als 5 Millionen, ihre Gewerkschaft mehr als 3 Millionen. Politisch hatte sie sich schließlich nach China ausgerichtet. Auf den Militärputsch von 1965 war sie allerdings nicht vorbereitet. Putsch und Gegenputsch sollen es gewesen sein, die Vorgänge sind bis heute nicht geklärt und die offizielle indonesische Geschichtsschreibung darf in diesem Punkt ohne weiteres als falsch bezeichnet werden. Jedenfalls übernahm General Soeharto die Macht, Sukarno wurde unter Hausarrest gestellt. In den Monaten von September 1965 bis April 1966 wurden die Kommunisten zur Jagd freigegeben – zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen wurden massakriert. Wobei wichtig ist zu betonen, dass nicht die Soldaten allein am Werk waren. Massenhaft wurden Leute von ihren Nachbarn, von Leuten aus dem Nachbardorf, von ehemaligen Geschäftspartnern etc. umgebracht. Alte Rechnungen wurden beglichen. Vor allem die Jugend der NU (Nahdlatul Ulama, «die größte Moslemorganisation der Welt», die den traditionellen Islam repräsentiert und damals noch Partei war) soll die Gelegenheit genutzt haben, um die Kontrolle über die Dörfer Ost- und Zentraljawas wieder für den Islam (und das hieß meist: die etwas wohlhabenderen Grundbesitzer) herzustellen. Die Diktatur Soehartos dauerte bis 1998, als er auf dem Höhepunkt der «Asienkrise» gestürzt wurde. Seitdem ist Indonesien durchaus so etwas wie eine bürgerliche Demokratie – der Antikommunismus ist allerdings bis heute vorherrschende Staatsideologie.
Der Vergleich: Die Individuen unter Kontrolle
Sowohl Indonesien als auch China waren keine oder besser gesagt, viel mehr als Militärdiktaturen. Es ist nicht so, dass sich die oberste Schicht der Herrschenden (Generäle, Politiker, Kapitalisten/Manager) im wesentlichen «auf die Gewehrläufe» stützten. In beiden Gesellschaften wurde die aus dem asiatischen Feudalismus überkommene Einbindung des Individuums in Familie, Dorfzusammenhang und unter ländliche Kleinmachthaber zu einem modernisierten und engen Netz der Kontrolle umgewandelt und weiterentwickelt. In China war es die Einbindung in ländliche Produktionseinheiten bis hin zu den Volkskommunen, die allesamt durch Komitees der KP kontrolliert wurden. In Indonesien wurde die Institution des Dorfvorstehers zur kleinsten Einheit des Staates auf dem Land mit weitreichenden Aufgaben: Meldebehörde, Dorfverwaltung, Vermittler aktueller Staatsparolen, Organisator gemeinsamer Arbeiten (zum Beispiel Bewässerung) und vieles mehr. Auch für die Städte wurden diese Modelle übernommen: In China wurden Stadtteilkomitees aufgebaut, in fast allen Städten Indonesiens ein System der Nachbarschafts- und Viertelorganisation eingeführt. Auch hier haben die jeweiligen Vorsteher weitreichende Befugnisse und Aufgaben, vor allem als Meldebehörde. Der Staat reicht also in beiden Ländern viel tiefer in die Gesellschaft; übernimmt viel mehr Aufgaben direkt und ist in Ideologie und Politik viel einheitlicher organisiert als wir das aus Europa kennen.
Bevölkerungspolitik
In China wurden während der Hungerjahre nach dem «Großen Sprung» in den Sechzigern erste Geburtenplanungskampagnen durchgeführt; allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. Die Ein-Kind-Politik begann erst 1979/80 – die Bevölkerung hatte sich seit 1950 fast verdoppelt. Auch in Indonesien wuchs die Bevölkerung gegen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre weit stärker als die Produktion von Reis. Beginnend mit Gruppen zur Familienplanung, die von Ärzten aufgebaut wurden, wurde 1970 ein eigenes Ministerium eingerichtet. Es galt eine «Zwei-Kind»-Politik. Es wurde nie so rigoros vorgegangen wie in China, wo Frauen zu Abtreibungen gezwungen und massenhaft sterilisiert worden sind. Aber auch in Indonesien war es mehr als gesundheitliche Aufklärung. Mehr oder weniger sanfter Druck auf die Frauen war an der Tagesordnung. Kredite und andere Vergünstigungen waren an die Teilnahme am Programm der «Keluarga Berencana», der «Geplanten Familie» gebunden. Es gibt Berichte, dass zum Beispiel den Mädchen ganzer Schulklassen Hormonspritzen verabreicht worden sind – auch zu Zeiten, als die «Dreimonatsspritze» wegen möglicher Nebenwirkungen in der westlichen Medizin höchst umstritten war. Indonesien war zeitweise der größte Verbraucher weltweit von IUDs (Intrauterin Devices), also von «Spiralen». Auch und gerade für die «Familienplanung» wurde das Blockwartsystem der Dorf- oder Straßenvorsteher benutzt. So ist es heute noch in javanischen Dörfern üblich, dass sich die Männer regelmäßig beim Dorfvorsteher treffen, um zum Beispiel anstehende Arbeiten zu bereden, während sich gleichzeitig die Frauen bei der Frau des Dorfvorstehers versammeln, wo vorwiegend über Familie und Familienplanung gesprochen wird. Jede Frau gibt an, wieviele Kondome oder Pillenpackungen sie braucht, die dann von der Frau des Dorfvorstehers bestellt werden. Frei sind die Verhütungsmittel kaum zu bekommen, da sie sonst auch für vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr benutzt werden könnten. Das Familienplanungsministerium berichtet auf seiner Webseite selbst von einem Versuch, an «bestimmten Orten» Kondomautomaten aufzustellen. Der Versuch musste «nach Intervention religiöser Kreise» umgehend wieder eingestellt werden.
Erfolgreich waren beide Programme: In China sollen 200 bis 400 Millionen Geburten verhindert worden sein; in Indonesien sank die Geburtenzahl pro Frau von 5,6 (1970) auf derzeit 2,36.
Zur Bevölkerungspolitik gehört aber auch die Steuerung von Wanderungsbewegungen. In China ging es dabei immer vor allem um den Schutz der Städte vor zuviel Zuwanderung. Schon vor, aber vor allem während der Kulturrevolution 1966-68 wurden an die dreißig Millionen städtische Jugendliche aufs Land verschickt. In Indonesien wurden zwischen 1974 und 1990 im Rahmen des (von der Weltbank unterstützten) Transmigrasi-Programms etwa 3,5 Millionen Menschen in ländliche, dünn besiedelte Gebiete umgesiedelt. Dünn besiedelt heißt nicht, dass es sich um unbebautes Land handelte – es wurde den Ansässigen oft einfach weggenommen. Dahinter stand natürlich auch die Vorstellung, mit ethnischer Vermischung den Nationalstaat zu fördern – ganz ähnlich wie China in Tibet oder Xinjiang die Zuwanderung von Han-Chinesen förderte.
Kern der Bevölkerungspolitik in China war (und ist) das Haushaltsregistrierungssystem hukou, der grundsätzlich zwischen Land- und Stadtbewohnern unterscheidet. Etwas ähnliches gibt es auch in Indonesien, betrifft im Wesentlichen aber nur die Hauptstadt Jakarta: Dort werden regelmäßig Razzien in den ärmeren Vierteln durchgeführt, um Leute festzunehmen, die keinen Ausweis der Stadt haben. Wichtiger ist, dass – wie in China – nur diejenigen Anspruch auf subventionierte Lebensmittel, Sonderzuwendungen, Wohnung haben, die sich «legal» am Ort aufhalten. Ansonsten wäre es vor allem auf Jawa vergebliche Mühe, das Wachstum der Städte aufhalten zu wollen: Im dichtest besiedelten Gebiet der Welt sind die Entfernungen so gering, dass man nicht wirklich zwischen Land- und Stadtbewohner unterscheiden kann.
Das Militär
In beiden Ländern spielt das Militär eine Schlüsselrolle. Es kann sich jeweils auf die Tradition des antikolonialen Kampfes stützen. In beiden Ländern ist nicht ganz klar, welchen politischen Einfluss die Generäle im politischen Alltagsgeschäft haben. Klar ist aber, dass das Militär die wesentliche Stütze der KP Chinas ist, wie sich beim Aufstand in Beijing 1989 gezeigt hat. In Indonesien war das Militär – vor allem die Landstreitkräfte – immer eigenständige Macht im Land und politische Partei. Wie die Volksarmee sind auch die indonesischen Streitkräfte weniger als Verteidiger der Grenzen organisiert, sondern in Form von Territorialkommandos. Die innenpolitische Rolle war unter Soeharto auch formell festgeschrieben: Die Polizei war ein Teil der Armee. Die hatte nicht nur selber eine gewisse Anzahl von Sitzen im Parlament, sondern die Staatspartei «Golkar» (Sekretariat Bersama Golongan Karya, Vereinigtes Sekretariat der funktionellen Gruppen) war 1964 von den Landstreitkräften gegen den Einfluss der PKI aufgebaut worden. Es gab unter Soeharto regelmäßig Wahlen, aber nur die Golkar durfte Basisorganisationen unterhalb der Kreisebene aufbauen und hatte als einzige Partei die Möglichkeit, auch auf den Außeninseln tätig zu werden. Heute besteht sie immer noch, als eine unter vielen. Immerhin ist sie heute eine der wenigen säkularen Parteien.
Im Zuge der «Reformasi» verlor die indonesische Armee beträchtlich an Einfluss. Polizei und Armee sind jetzt formal getrennt. Das ändert aber nichts daran, dass der Einfluss der Armee immer noch groß ist und ihre innenpolitische Rolle immer noch festgeschrieben ist. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem «bewaffnete separatistische Bewegungen zu bekämpfen, bewaffnete Aufstände zu bekämpfen, der Verwaltung in den Landesteilen zu helfen, der Polizei zu helfen» und so weiter.
Ideologie
Welch emanzipatorisches Potential in der chinesisch/maoistischen Rezeption des Marxismus auch immer vorhanden gewesen ist, es ist nicht viel übrig geblieben – vielleicht außer der Vorstellung, dass Alle prinzipiell gleiche Rechte haben. Dies in China mit seiner feudalistischen und frauenunterdrückenden Tradition in den Köpfen zu verankern, ist ohne Zweifel eine wahrhaft historische Tat. War der Maoismus seinerseits schon eine drastische Verkürzung des Marxismus, wurde er weiter zusammengestrichen zu der Sprüchesammlung, die als «Kleines Rotes Buch» erst von Lin Biao für die Soldaten, dann in der Kulturrevolution für alle zur Zwangslektüre erklärt wurde. Nicht zu Unrecht als «Mao-Bibel» bezeichnet, wurde aus der Antireligion selbst eine Religion mit allem Zubehör. Und in gewissem Sinn sogar eine besonders eklige, weil der Liebe Gott nicht nur eine virtuelle Verkörperung der Unerklärlichkeiten und Hoffnungen darstellte, sondern ein lebender Mensch war. Damit ist ein Kampf gegen die anderen Religionen – oder «Aberglauben», wie sie offiziell genannt werden – nicht zu gewinnen.
In Indonesien ging es von Anfang an um die Abwehr der Islamisierung – auf der Ebene der Staatsverfassung als auch praktisch in der Form der Niederschlagung islamistischer Aufstände. Die Religion ist zwar offizielle Staatsideologie, und jeder muss einer Religionsgemeinschaft angehören. Aber der Islam ist formell nicht bevorzugt, alle großen Weltreligionen sind anerkannt. Obwohl nur etwa vier Prozent der Bevölkerung Christen sind, gehören Weihnachten, Karfreitag und Christi Himmelfahrt zu den hohen und landesweit (prinzipiell) arbeitsfreien Feiertagen. Der Einfluss der Christen in der Elite in Jakarta war und ist weit größer, als ihr Bevölkerungsanteil vermuten lässt. Die normale Indonesierin ist nicht viel religiöser als etwa die Westdeutsche, dennoch spielt die Religion eine größere Rolle im Alltag – sie regelt alle Familienangelegenheiten wie Heirat oder Erbrecht. Für wohlhabende Städter ist es schwierig (und teuer) aber prinzipiell denkbar, außerhalb der eigenen Religion zu heiraten, auf dem Land völlig unmöglich.
Zur offiziellen Staatsideologie gehören neben der Religion noch «Humanismus, Nationale Einheit, Demokratie und Soziale Gerechtigkeit», zusammengefasst als «Pancasila». Die weitreichende Buch- und Medienzensur war unter Soeharto ähnlich intensiv wie in China. Was für die dortigen Studenten die obligatorischen Kurse in Mao Zedong-Ideen, nannte sich in Indonesien «Pancasila- Unterricht» für Schüler und Studenten – in dem eine Vorstellung der korporatistischen Gesellschaft, gemischt mit krudem Antikommunismus, gelehrt wurde.
Traumata
Viel wichtiger als die offiziellen Ideologien jedoch ist etwas ganz anderes, und auch da gibt es spiegelbildlich Entsprechungen in beiden Ländern: ein gesellschaftliches Trauma, das aus den von vielen selbst ausgeübten oder sympathisierend geduldeten Verbrechen der Vergangenheit rührt. In China gibt es die Erinnerung an die Hungerkatastrophe des Großen Sprungs von 1959 bis 1962, an die Verfolgung von «Reaktionären» während der Kulturrevolution und die blutige Niederschlagung des Aufstandes in Beijing 1989. In Indonesien war es das Massaker an den tatsächlichen oder vermeintlichen Kommunisten 1965/66. Über all das können beide Gesellschaften schwer reden. Bis heute ist deshalb der Antikommunismus in Indonesien tief verwurzelt und ein völliges Nichtthema. Vorsichtige Versuche während der Reformasi-Zeit nach dem Sturz Soehartos eine gewisse Öffnung zuzulassen (auch durch den damaligen Präsident Abdurrahman Wahid, immerhin auch Chef der NU), sind gescheitert.2
Es ist deshalb kein Wunder, dass die Standardwerke über die jüngere Geschichte in beiden Ländern außerhalb geschrieben wurden – immerhin ist «A History of Modern Indonesia Since c. 1200» von M.C. Rickleffs schon auf Indonesisch erschienen und erhältlich. Darüber hinaus sind auch einige Schriften von Karl Marx inzwischen übersetzt und veröffentlicht (was Abdurrahman Wahid höchstpersönlich gedeckt hat, als er bei der Pressekonferenz zur Vorstellung von «Das Kapital Band I» auf dem Podium Platz nahm).
Entwicklung und Ausbeutung
1959 hatte in China die Hungerkatastrophe als Folge der Vernachlässigung der landwirtschaftlichen Produktion zugunsten des Versuchs, auf dem Land Stahl zu produzieren, schon drastische Ausmaße erreicht. Die pro Person verfügbare Menge an Getreide war von 205 Kilo zwei Jahre zuvor auf 183 Kilo gefallen. Dennoch erhöhte die Regierung die Getreideausfuhren in die Sowjetunion, um für Anlagen für die Schwerindustrie zu bezahlen. Im nächsten Jahr waren nur noch 156 Kilo Getreide pro Person verfügbar. (Spence, The Search for Modern China, 1999, p. 553) Ein drastisches
Beispiel für die Politik aller Entwicklungsdiktaturen. Es ging um die Entwicklung der Industrie, vor allem der Schwerindustrie, und die Mittel, dies zu erreichen, mussten aus der Arbeit der Bauern gezogen werden. Ein anderes, ebenso bezeichnendes Beispiel: Im Spätjahr 1998 war die Währung Indonesiens auf etwa 10 Prozent ihres Wertes von 1996 gefallen mit der Folge, dass sämtliche Preise – vor allem all die Preise, die für Städter wichtig sind – drastisch anzogen. Finanziert vom Ausland (IWF, aber auch direkt zum Beispiel als «Gift from Germany»), wurde fünf mal soviel Reis importiert, als in den Jahren zuvor. Nicht weil die Ernte misslungen war. Sondern um wenigstens den Preis für das grundlegendste aller Lebensmittel einigermaßen im Griff zu halten – auf Kosten der einheimischen Reisbauern.
Lebensmittel
In China monopolisierte die Regierung über viele Jahre den Lebensmittelhandel fast vollständig. In Indonesien wurde 1967 aus verschiedenen Vorläufergesellschaften das Amt für Logistik BULOG gebildet, das landesweit den Handel mit Agrarprodukten organisierte. Erklärtes Ziel war, den Preis für die Grundnahrungsmittel zu stabilisieren, «sowohl für die Konsumenten als auch für die Produzenten nach den Vorgaben der Regierung». BULOG handelte mit Reis und anderen Grundnahrungsmitteln als auch mit Saatgut, Düngemitteln, Pflanzenschutzmitteln. Obwohl nur etwa 15 Prozent des Reis von BULOG verwaltet wurde, waren seine Speicherkapazitäten groß genug, um jederzeit den politischen Preis am Markt durchzusetzen. Darüber hinaus liefen die Subventionen für Grundnahrungsmittel über BULOG.
Landreform
In China wurde recht schnell, 1950, eine umfassende Enteignung der Großgrundbesitzer und Grundherrn durchgeführt. Auch die junge Republik Indonesien beschloss eine Landreform, aber nur «abwesende Besitzer» sollten enteignet werden. Das zielte auf weiterbestehenden Kolonialbesitz, weniger auf einheimische Grundherrn. Dazu muss gesagt werden, dass unter der holländischen Besatzung einheimischer Großgrundbesitz kaum entstanden war (im Gegensatz etwa zu den Ländern, die von den Spaniern beherrscht waren – Lateinamerika und die Philippinen). Es gab in der frühen Phase einige Enteignungen und einige Ländereien wurden von der KP nahestehenden Bauern besetzt. Ernsthaft angegangen wurde das Problem der vielen armen und landlosen Bauern nicht. 1957/58 wurden niederländische Plantagen nationalisiert. Mit der Leitung wurden verdiente Militärs beauftragt – ein Modell, das sich dann während der Soeharto-Diktatur auf so gut wie alle Staatsbetriebe ausweitete. Unermessliche Summen an Geldern konnten damit von den Militärs manipuliert werden, ohne je ernsthaft Rechenschaft ablegen zu müssen. Die Staatsplantagen wurden systematisch auf Kosten der Kleinbauern ausgeweitet. Wie groß sie wirklich sind, wird nicht veröffentlicht. Aber ihre Dimension lässt sich daran ermessen, dass im Jahr nach dem Sturz Soehartos etwa zwei Millionen Hektar Land von Kleinbauern und landlosen Bauern besetzt wurde – das ist ungefähr ein Prozent der Gesamtfläche Indonesiens. Es war Land der Staatsplantagen. Präsident
Abdurrahman Wahid hat einmal die Plantagenfirmen beschuldigt, dass sie etwa 40 Prozent ihres Landbesitzes den Leuten während der Soeharto Ära gestohlen und niemals einigermaßen korrekte Entschädigungen geleistet hätten. Es wird geschätzt, dass in den achtziger Jahren etwa 15 Prozent aller Plantagen wertmäßig in Staatsbesitz waren. Auch die mit agrarindustriellem Kapital finanzierten Plantagen hatten sich während der Diktatur auf Kosten der Kleinbauern ausgedehnt – vor allem deshalb, weil diese ihren Besitz selten in der Form als kapitalistisches Eigentum beweisen konnten. Reis wird bis heute von Kleinbauern produziert; die Plantagen produzieren die Cash-Crops, landwirtschaftliche Exportprodukte, wie Palmöl, Gummi, Tee, Kaffee, Tabak und nicht zuletzt Holz.
Industrie
Ebenso wie in China lag das Schwergewicht der staatlichen Investitionspolitik anfangs im Bereich der Schwer- und Grundstoffindustrie. Bis 1975 stieg der staatliche Anteil an der Industrie auf 25 Prozent. Zu den Staatsbetrieben gehörten neben dem Stromversorger, der Eisenbahn und anderen Infrastrukturunternehmen vor allem Düngemittelfabriken, das Stahlwerk mit dem schönen Namen Krakatau Steel, Zementfabriken und die Erdölfirma Pertamina, der die Hälfte der Produktion von Erdöl/Erdgas zugestanden wurde. Die Liste reicht weiter von einer Flugzeugfabrik bis zum berühmtesten Kaufhaus in Jakarta, dem Sarinah. Nach 1975 nahm der Staatsanteil wieder ab – weil Soehartos Familie und seine Clique inzwischen selbst reich genug waren, ihre Imperien aufzubauen.
Der Entwicklungsprozess wurde in den achtziger und neunziger Jahren nicht mehr energisch vorangetrieben. Das Land war praktisch in den Händen der Soeharto-Familie und ihrer Freunde, und die waren letztlich an schnellem Profit interessiert. Trotz der Bodenschätze und des fruchtbaren Landes ist Indonesien noch immer im wesentlichen der Anbieter von billiger, junger Arbeitskraft. Nicht nur im Export. Jedes Jahr gehen Millionen junger Menschen ins Ausland, meist von zugelassenen oder staatlichen Agenturen geschickt – Frauen als Haushelferinnen nach Arabien, Männer als Plantagenarbeiter nach Malaysia. Auch im Inland verfolgt die Regierung deutlich eine Politik der billigen Arbeitskraft in Konkurrenz mit Vietnam und China. Gewerkschaften sind inzwischen zugelassen. Aber nachdem die ArbeiterInnen jetzt in der Lage sind, viele der formell guten arbeitsrechtlichen Vorschriften auch einzufordern, werden die stückweise verschlechtert.
Nach dem Fall der Diktatur: Demokratie allein ist nur ein winziger Fortschritt
Die Bewegung zum Sturz Soehartos 1998 wurde – ähnlich wie der Aufstand in Beijing 1989 – von den Studenten dominiert. Aber beide Aufstände hatten ihre Vorgeschichte und Vorläufer: Streiks, breite Unzufriedenheit über die Korruption und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Nach dem Sturz des Diktators war Indonesien für ein paar Monate zwar eines der ärmsten, aber auch eines der freiesten Länder der Welt. Das Militär war zurückgedrängt, Zeitungen und Zeitschriften erschienen in großer Zahl und wurden verschlungen.
Täglich gab es Nachrichten über Landbesetzungen, Streiks und Demos. Aber bald zeigte sich, dass in Wirklichkeit nur die alleroberste Spitze der Diktatur gekappt war, Soeharto selbst und seine Familie. Die Zeit der Öffnung war vorbei, als der erste gewählte Präsident Adurrahman Wahid, der einen weltoffenen und liberalen Islam vertritt, abgesetzt wurde. Ironischerweise wegen Korruption, obwohl er wohl die einzige honorige Person in der politischen Schlangengrube in Jakarta war.
Die Strukturen der Herrschaft sind nicht wesentlich angetastet worden. Die Korruption in Indonesien war unter Soeharto legendär. Ausländische Kapitalisten hatten damals geklagt, dass sie mehr Geld für Hilfsdienste aller Art als für Löhne ausgeben mussten. Das ist in Wirklichkeit eher schlimmer geworden – es sind einfach viel mehr Leute und Ebenen geworden, die ihre Dienste honoriert haben wollen. Zwar ist der derzeitige Präsident wegen seines Versprechens gewählt worden, dagegen vorzugehen. Aber wenn mal einer angeklagt wird, dann nur aufgrund einer politischen oder finanziellen Auseinandersetzung innerhalb der Elite selbst. Das ist wohl nicht ganz unähnlich der derzeitigen Situation in China, wo gerade einige dem Dauermachtkampf zwischen den Parteizentren in Beijing und Shanghai zum Opfer fallen.
Nach 1998 entstanden in Indonesien hunderte Gewerkschaften, meist auf dem Hintergrund langjähriger versteckter Arbeit von Einzelnen oder kleinen Gruppen von Studenten oder Anwälten. Diese Organisationen entwickelten aber ganz schnell ihr Eigenleben. Zwar konnten sie in unzähligen Streiks erreichen, dass der Lebensstandard der Vorkrisenzeit wieder erreicht wurde. Aber dann waren sie nicht nur anerkannt, sondern auch eingebunden. Wie ein Kollege in Medan das formuliert hat: «Früher sind wir zu den Arbeitern gegangen, weil wir die Revolution machen wollten. Jetzt haben wir ein Büro und sitzen den ganzen Tag in Verhandlungen, bei Gerichtsterminen usw. Das ist nicht das, was wir wollten. Aber was können wir anders machen?» Wer aufgrund eines Streiks als Rädelsführerin rausflog, wurde oft genug zur Hauptamtlichen in der Gewerkschaft selbst. Dazu flossen und fließen ziemlich große Summen aus Europa (zum Beispiel von der Friedrich-Ebert-Stiftung) oder Amerika (vom AFL/CIO) an die Gewerkschaften und nur wenige nehmen diese Gelder nicht. Insgesamt repräsentieren die Gewerkschaften sowohl den Fortschritt nach der Diktatur als auch dessen Beschränktheit; sowohl die Kampfkraft der indonesischen ArbeiterInnen, die sie zu den streikfreudigsten der Welt gehören lässt, als auch ihre immer noch weitreichende Eingebundenheit in die korporatistische Gesellschaft. Eine politisch radikale Opposition entwickelt sich erst langsam und droht – auch das eine Parallele zu China – immer wieder, von NGOs eingefangen (und in rechtliche oder lobbyistische Bahnen gelenkt) zu werden.
Die persönliche Freiheit ist größer geworden, in China und in Indonesien, das kann nicht bestritten werden. Wegen der wirtschaftlichen Verbesserung und der Kommerzialisierung des Lebens und vor allem im Zuge der zunehmenden Urbanisierung. Das macht die Kontrolle der Einzelnen schwieriger, vor allem in der Stadt und gegenüber den ArbeiterInnen und Arbeitern. Persönliche Freiheit meint mehr Möglichkeiten der Lebensgestaltung (darunter auch größere sexuelle Selbstbestimmung trotz aller praktischen Schwierigkeiten), es meint nicht unbedingt mehr politische Freiheit. Davon kann nur in Indonesien gesprochen werden, und auch dort nur eingeschränkt.
In Indonesien nutzen zumindest Teile der Armee und Elite die Zeit um reaktionäre, zum Teil direkt faschistische, gegen die Arbeiterbewegung gerichtete Organisationen aufzubauen. Gewöhnlich, aber nicht ausschließlich, unter islamistischer Verbrämung. Die fungieren zum Teil als Schlägertrupps, um Streiks und Demos anzugreifen. Die größte Gefahr derzeit ist der Erfolg einer Partei, die sich «Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei PKS» nennt, Verbindungen zur ägyptischen «Islamischen Bruderschaft» hat und erfolgreich selbst eine große nationale Gewerkschaft aufbaut.
Es gibt also keinen Automatismus, soviel können wir aus Indonesien lernen. Diktaturen, die über Generationen das Leben, die Politik und die Kultur bestimmen, wirken nach. In der Zeit, in der die ganze Gesellschaft um ihre tatsächliche Überwindung kämpft, können neue Feinde von Freiheit und Emanzipation von der Situation profitieren. In Indonesien ist das vor allem die Religion, auch wenn sich bislang die Gesellschaft zäh gegen eine weitreichende Islamisierung wehrt. Aber es wäre wohl auch zu viel erwartet, wenn man hoffte, dass die Arbeiterklasse den ganzen alten Mist, Diktatur, feudale Reste, Kapitalismus und Religion auf einmal auf den Müllhaufen werfen könnte.
Fußnoten
1 Indonesien ist mit etwa 240 Millionen Einwohnern das viertgrößte Land der Welt. Es umfasst 17.000 Inseln und erstreckt sich von Ost nach West über mehr als 5.000 km. Es gibt 350 Ethnien mit 250 verschiedenen Sprachen. Etwa die Hälfte der Menschen wohnt auf der Insel Jawa, die damit eines der am dichtest besiedelten Gebiete der Welt ist. Mehr als 90 Prozent der Menschen gehören der islamischen Religion an. Die Sprache Bahasa Indonesia wurde von indonesischen Intellektuellen noch während der Kolonialzeit entwickelt und in lateinischer Schrift niedergeschrieben. Sie beruht auf der alten Handelssprache Malaiisch.
2 Im Juli 2007 wurden in Bandung auf gerichtliche Anordnung hin die Schulbücher des Jahrgangs 2004 öffentlich verbrannt, weil in ihnen nicht mehr eindeutig behauptet worden war, die PKI hätte den Putsch «linker Generäle» am 30.9.65 organisiert. Sie hatten dafür das Kürzel «G30S» (Gerakan 30 September, Bewegung 30. September) benutzt, nicht das alte Kürzel «G30S/PKI».