[Beitrag aus der Beilage Unruhen in China, wildcat #80, Dezember 2007; siehe auch die Illustration Überleben als Mingong.]
Seit Ende der achtziger Jahre sind chinesische Produktionen regelmäßig auf internationalen Filmfestivals vertreten und werden mit Preisen überhäuft. Vor allem machen immer wieder Filme des Arthouse- und Programmkinos auf sich aufmerksam. Trotz niedriger Budgets und schwierigen Produktionsbedingungen zeichnen sie sich durch eine intensive Bildsprache und hohe Ästhetik aus. Nicht selten sind die Filme in China verboten. Um der Zensur zu entgehen, wird im Untergrund gedreht, Filmmaterial aus dem Land geschafft und im Ausland fertig gestellt. Filme wie «Beijing Bicycle» (2002) von Wang Xiaoshuai, in dem das harte Leben eines jungen Wanderarbeiters in Beijing geschildert wird, dürfen in China offiziell nicht aufgeführt werden, finden ihre Verbreitung aber als DVD auf dem Schwarzmarkt und werden somit weitläufig bekannt.
Wang Xiaoshuai gehört mit Zhang Yuan (Mama 1990, East Palace, West Palace 1996), Jia Zhangke (Xiao Wu 1997, Unknown Pleasures 2002, Still Life 2006) und Zhang Yang (Shower 1999, Getting Home 2007) und anderen zur so genannten «sechsten Generation» chinesischer Filmregisseure. Ihre Vertreter verbindet eine gemeinsame Zeit an der Beijinger Filmakademie Ende der achtziger Jahre, die von den traumatischen Ereignissen 1989 am Tian’anmen-Platz geprägt war. Ihre Filme stehen für einen unverschönten, realistischen, sozialkritischen Blick auf die Verhältnisse im heutigen China. Sie erzählen von Kleinkriminellen, Arbeitslosen, Wanderarbeitern, von Frauen in der Prostitution, von der Diskriminierung Homosexueller oder vom perspektivlosen Alltag Jugendlicher im urbanen China. Jia Zhangke, vielleicht ihr bekanntester Vertreter, sagt in einem Interview: «Zu viele chinesische Filme konzentrieren sich auf kommerziellen Gewinn und Unterhaltung. Ich will den Kampf der arbeitenden Klasse in China darstellen und meiner Sorge für die einfachen Menschen Ausdruck geben.»1
Seine Kritik am kommerziell ausgerichteten Kino richtet sich vor allem an zwei Regisseure der fünften Generation: Zhang Yimou (Das rote Kornfeld 1987, To Live 1994, Happy Times 2000) und Chen Kaige (Lebewohl, meine Konkubine 1993), die ihre Rolle als kritische Filmemacher komplett aufgegeben haben. Mit den in China oft verbotenen früheren Werken der beiden haben Zhang Yimous Filme «Hero» und «Der Fluch der goldenen Blume» oder Chen Kaiges «Wu Ji» nichts mehr gemeinsam. Hier geht es nur noch um prunkige Kostüme und Geschichtsverklärung. Zhang Yimou ist auf diese Weise zum Aushängeschild der chinesischen Regierung avanciert. Von ihren jüngeren Kollegen der sechsten Generation werden sie als Verräter gesehen.
Im Folgenden wollen wir euch einige aktuelle Spielfilme, aber auch weniger bekannte Dokumentarfilme vorstellen, die sich den gesellschaftlichen Umbrüchen, sozialen Verhältnissen und Kämpfen in China widmen. Seit ein paar Jahren scheint es in China einfacher geworden zu sein, in den vom Staat kontrollierten Medien auf die Situation von WanderarbeiterInnen oder Arbeitslosen aus den ehemaligen Staatsbetrieben aufmerksam zu machen. So ist es Filmen wie Still Life, in dem von häufigen Arbeitsunfällen in den Bergwerken und von Korruption bei Entschädigungszahlungen während der massiven Zwangsumsiedlung am Drei-Schluchten-Staudamm die Rede ist, gelungen, durch die Zensur zu kommen. Ein Blick in diese Filme lohnt sich.
Zunächst zu den Spielfilmen:
Still Life
von Jia Zhangke, China 2006. Der Drei-Schluchten-Staudamm und die mit seinem Bau verbundenen enormen Umwälzungen, der Abriss und die Überflutung ganzer Städte, Zwangsumsiedlung und Trennung, Auflösung sozialer Beziehungen – all das ist Thema in diesem Spielfilm. Der in langen, ruhigen Einstellungen erzählte Film folgt weniger der Dramaturgie einer Geschichte. Er setzt sich vielmehr aus genauen Beobachtungen und kleinen, einfachen Momenten zusammen. «Still Life» heißt «Stillleben». Orte, die von Menschen erzählen. Mittendrin zwei Menschen auf der Suche: Han Sanming ist
Kohlebergarbeiter aus der weit entfernten Provinz Shanxi und nach Fengjie gereist, um seine Ex-Frau wiederzufinden und seine Tochter, die er noch nie gesehen hat. Zur gleichen Zeit kommt die Krankenschwester Guo Shenhong in die Gegend, um ihren Mann, den sie zwei Jahre lang nicht gesehen hat, zur Rede zu stellen.
In den vielen kleinen Momenten greift der Film auf, was das heutige China und die Probleme der arbeitenden Klasse ausmacht: Von Arbeitsunfällen ist die Rede, nicht gezahlten Löhnen. Ein sechzehnjähriges Mädchen fragt eine Fremde, ob sie in ihrer Gegend nicht Dienstmädchen suchen, Sanmings Ex-Frau, die einen fremden Menschen pflegt, weil ihr Bruder Schulden bei ihm hat, und seine Tochter, von der es ein Foto gibt: in hellblauer Arbeitskleidung vor einem Fabriktor in Shenzhen. Immer wieder Menschen, die umsiedeln müssen, Entschädigungen, die nicht gezahlt werden, Gebäude, die abgerissen werden. Eine Stadt im Rhythmus der Vorschlaghämmer. Die ausgemergelten Gesichter der Abrissarbeiter, Tagelöhner. Und auch wenn es Geduld erfordert, den langen Einstellungen und dem ruhigen Rhythmus zu folgen – der Blick in die Gesichter der Menschen und die Momentaufnahmen ihres Lebens machen den Film sehenswert.
Getting Home
von Zhang Yang, China/Hongkong 2007. Zhao hat mit seinem Kumpel vier Jahre lang zusammen in Shenzhen auf dem Bau gearbeitet und jetzt ist der Kumpel tot. Hat sich tot gesoffen. Da ihnen trotz schwerer Arbeit nicht viel vom Leben bleibt und auch der Tod nicht umsonst ist, macht sich Zhao selbst auf den Weg, um die Leiche seines Kumpels zu seiner Familie zu bringen, in ein Dorf in der Gegend des Drei-Schluchten-Staudamms. Ein Weg, der für Leute mit dem nötigen Geld einige wenige Flugstunden bedeutet. Für Zhao aber, in seiner schäbigen Maojacke und blauen Arbeitshosen, sein ganzes Hab und und Gut in einer kleinen Feldtasche untergebracht, bedeutet es eine lange und beschwerliche Reise. Er trifft die unterschiedlichsten Menschen, und auch wenn ihn die Kräfte und der Mut verlassen, so nicht sein Einfallsreichtum, die Leiche zu transportieren ohne Argwohn zu wecken. Auch diese schwarze Komödie ist gesellschaftskritisch. Erzählt wird von Armut und der Kriminalität als Ausweg, von Fabrikunfällen, illegalem Bluthandel, Razzien gegen WanderarbeiterInnen. Aber auch von den Demütigungen, denen die mingong ausgesetzt sind, von der Tatsache, das die eigenen Kinder, die studieren und aufsteigen, sich ihrer in Armut lebenden Eltern schämen und den Kontakt abbrechen.
Die Darstellung dieser Realitäten passt zu der Art, mit der mittlerweile in chinesischen, staatlich kontrollierten Medien auf die Problematik der WanderarbeiterInnen aufmerksam gemacht wird: eine Frau wird gezeigt, deren Gesicht nach einem Brand in der Fabrik von Narben entstellt ist. Und die sich mit diesem Elend zurückgezogen hat und auf Dauer versteckt und verborgen lebt. Der Staat selbst taucht in diesem Film in Gestalt des hilfsbereiten, gütigen Polizisten auf oder als fürsorgende Einrichtung für Obdachlose. Ein Staat, der sich den Belangen seiner BürgerInnen annimmt. Er scheint jedoch nicht verantwortlich zu sein, für das Elend der mingong, für die Arbeitsunfälle, die Armut…
Crazy Stone
von Ning Hao, China 2006. Diese schwarze Gaunerkomödie hat im vergangenen Jahr die chinesischen Kinos gestürmt und ließ dabei einige amerikanische Blockbuster hinter sich. Der Low-Budget-Film wurde für nur 400.000 Dollar produziert. Mit viel Witz und flottem Tempo und in schwer verständlichem Sichuan-Dialekt dreht sich die Geschichte um einen wertvollen Jadestein, der auf dem Gelände einer Fabrik gefunden wurde. Der Fabrikbesitzer ist zahlungsunfähig, seit Monaten stehen Löhne aus und bald wird der Betrieb ganz schließen. Nun soll die Versteigerung des Jadesteins Rettung bringen. Doch hinter dem Stein sind bereits kleine und große Kriminelle her und es wird nicht einfach sein, ihn zu bewachen. Diese Aufgabe übernehmen zwei der Arbeiter unter einer Bedingung: alle Arbeitsplätze werden erhalten und die Löhne gezahlt. So werden die beiden in die Verwirrungen um den Stein hineingezogen. Um am Ende festzustellen, dass sie wieder verarscht wurden…
Ghosts
von Nick Broomfield, Britannien 2006. Ein Film, der das Schicksal von chinesischen ArbeitsmigrantInnen in Europa erzählt. Er spielt nur anfangs in China. Ai Qinlin, eine junge Frau vom Land, verschuldet sich, um die Fahrt mit einer Schlepperbande nach Europa zu bezahlen. Sie hat die Hoffnung, dort einen Job zu finden und Geld an ihren vierjährigen Sohn zu schicken.
Rekonstruiert wird ein wahrer Vorfall und dessen Vorgeschichte in Großbritannien, bei dem 23 Menschen, Illegale aus China, bei der Muschelernte in der Flut umgekommen sind. Die Hauptrolle wird von einer Laiendarstellerin gespielt, die selbst lange als illegale Migrantin in England gelebt hat. Sehr präzise werden die Lebensbedingungen der Illegalen nachgezeichnet, der lange Weg und die Zwischenstationen über Land nach Europa, ihre billigen Massenunterkünfte, die Beziehungen untereinander, der verzweifelte Kampf um einen Job, meist Drecksarbeit in der Lebensmittelindustrie, der Rassismus Einheimischer, denen sie mit ihren Jobs zum Teil in die Quere kommen.
Nun zu den Dokumentarfilmen:
Tie Xi Qu – West of tracks
von Wang Bing, China 2003. Tie Xi Qu ist eine neunstündige Trilogie, die aus den Teilen Rust, Remnants und Rails (Rost, Restposten und Schienen) besteht. In einem Zeitraum von zwei Jahren, zwischen 1999 und 2001, dokumentierte der Filmemacher Wang Bing mit seiner Videokamera die tiefgreifende Transformation, der die Menschen in der Tie Xi-Region, einem Rostgürtel im Nordosten Chinas ausgesetzt sind. Tie Xi war lange ein Zentrum der Schwerindustrie.
Der erste Teil Rust beobachtet und begleitet die Arbeiter eines riesigen Stahlwerks, das geschlossen werden soll. 6 000 Menschen werden ihre Arbeit verlieren. Andere staatliche Werke der Region sind bereits dicht gemacht worden. Die Zukunft der ArbeiterInnen aus diesem Staatsbetrieben, deren Leben von dieser Arbeit geprägt und deren Sicherheiten daran gekoppelt waren, ist ungewiss. Wang Bings erste Version war fünf Stunden lang. Fünf lange Stunden, in denen wir die riesigen Industrieanlagen sehen, ein letztes Mal kochen die Stahlöfen, an denen die Arbeiter ungeschützt arbeiten. Viel ist nicht mehr zu tun. Warten in dunklen Umkleiden und schäbigen Aufenthaltsräumen, Rauchen, Essen. Diskutieren, Streiten. Verzweiflung, Fragen. Wie geht es weiter?
Remnants, der zweite Teil wendet den Blick in eine ärmliche Arbeiter-Siedlung im Tie-Xi-District, die demnächst Modernisierungsprojekten der Stadt zum Opfer fallen soll. Viele der AnwohnerInnen weigern sich jedoch umzuziehen. Sie haben noch keine Entschädigung erhalten, sind unzufrieden mit den Ausweichwohnungen oder wehren sich dagegen, ihre jahrelangen Gewohnheiten aufzugeben. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe Teenager und deren unspektakulärer Alltag. Erst als die Abrissarbeiten unausweichlich näher rücken, sind sie gezwungen, sich Gedanken über ihre eigene Zukunft zu machen.
Nachdem sich die Dokumentation in den ersten beiden Teilen dem Produktions- und dem Reproduktionsbereich gewidmet hat, dreht sich der dritte Teil Rails um den Transportbereich. Lange Bahnstrecken dienten dem Gütertransport zwischen den weit auseinander liegenden Industrieanlagen, den Stahlhütten, Kupfer-, Blei- und Zinkgießereien. Hier wird die Geschichte zweier Menschen erzählt, zweier Arbeitsloser, die sich entlang der Bahnstrecke mit Betteln den Lebensunterhalt verdienen.
Yan Mo – Before the flood
von Yan Yu und Li Yifan, China 2005. Ein Dokumentarfilm, der sehr eindringlich die harten und ärmlichen Lebensbedingungen der BewohnerInnen von Fengjie schildert, einer Stadt, die nach Abschluss des Baus des Drei-Schluchten-Staudamms komplett überflutet sein wird. Die Zwangsräumungen sind bereits angekündigt, doch bei der Auszahlung von Entschädigungen und der Stellung von Ausweichwohnungen gibt es immer wieder Probleme. Korruption und Willkür, ein undurchsichtiger Wust von Ausnahmeregelungen und die bewusste Verzögerung der Entschädigungszahlungen seitens der Behörden sind dafür verantwortlich, dass die Abrisse begonnen haben und viele Leute vor dem existentiellen Aus stehen. Vor der Kamera kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Leuten, die von der Zwangsumsiedlung bedroht sind, und den VertreterInnen der Behörden, die diese Zwangsumsiedlung anordnen und durchsetzen. Tumulte, Diskussionen, Beschimpfungen, handgreifliche Auseinandersetzungen – ein alltäglicher, hartnäckiger Kampf auf allen Ebenen. Fast grotesk mutet die Szene an, als die Stadtverwaltung eine Tombola organisiert, bei der Ausweichgrundstücke verlost werden. Der riesige Saal bleibt jedoch leer. Die AnwohnerInnen boykottieren die Aktion. Einige Anwesende schimpfen: «Ihr könnt mich mal.»
Die beiden Filmemacher waren für einen chinesischen Fernsehsender in die Region geschickt worden. Ihr Beitrag für das staatliche Fernsehen war erwartungsgemäß und passierte die Zensur. Doch die beiden beschlossen auf eigene Faust länger zu bleiben und eine Dokumentation über die tatsächlichen Vorgänge in Fengjie zu machen. Als Fernsehleute genossen sie auch bei den Behörden Vertrauen, was ihnen ungehinderten Zugang verschaffte. Ihr Material mussten sie aus China schmuggeln, der Film durfte dort öffentlich nicht aufgeführt werden.
Railway of Hope
von Ning Ying, China 2001. Die Migration innerhalb Chinas bewegt sich nicht nur vom Land in die Stadt, auf den Bau und in die Fabriken. Ein Teil der Landbevölkerung fährt jedes Jahr tausende Kilometer, um als Saisonkräfte in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die Filmemacherin Ning Ying hat die dreitägige Zugreise von LandarbeiterInnen aus der Provinz Sichuan begleitet, die für zwei Monate in der 3000 Kilometer entfernten autonomen Region Xinjiang auf den endlosen Baumwollfeldern als ErntehelferInnen arbeiten. Eine junge Frau sagt: «Es ist das erste Mal, dass ich mit dem Zug fahre.» Und lacht. Auf dem Bahnsteig drängeln und quetschen sich unzählige Menschen. Viele sind bereits seit zwei Tagen hier, übernachten auf den Bahnsteigen, um sicherzugehen, dass sie es in den Zug schaffen, der hoffnungslos überfüllt sein wird. Bilder von Menschenmengen, die in Bewegung sind. Schubsen, Drängeln, Schieben. Als der Zug einfährt, durchbrechen sie die dürftigen Absperrungen, klettern durch die Fenster in den Zug. In ihren Gesichtern und Äußerungen spiegelt sich die Hoffnung auf ein besseres Leben wider, aber auch Abenteuerlust, der Ruf des
Unbekannten.
Die Taxischwestern von Xian
von Fang Yu, China/Deutschland 2006. Xian, einst wichtiger Standort der staatlichen Rüstungs- und Textilindustrie, hat heute, nach Schließung vieler staatlicher Betriebe, mit einem hohen Ausmaß von Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Neue Investoren kommen nur langsam in die Stadt.
Nachdem sie arbeitslos wurden, fingen Yu Weihong, Wang Aiju und Duan Yimei an, Taxi zu fahren. 365 Tage im Jahr, zehn Stunden und länger täglich. Sie sind die Taxischwestern (chin: dijie) von Xian. Ihre Männer sind entweder arbeitslos, drogensüchtig oder tot. Von ihrem Einkommen ernähren sie die Familie. Die Stadtverwaltung hat angeordnet, dass nur noch bestimmte Autotypen von den Marken VW und Citroën als Taxis gefahren werden dürfen. Neuanschaffungen können sich die Frauen von ihrem Lohn niemals leisten. Um auch die hohen jährlichen Gebühren für die Taxi-Konzessionen zahlen zu können, nehmen sie Kredite bei Verwandten auf. Dies wiederum schafft Abhängigkeiten. Mit einem liebevollen Blick auf ihre Persönlichkeiten erfahren wir, unter welchem enormen Existenzdruck die Frauen stehen. Sie erzählen offen von ihren kleinen Überlebensstrategien, Demütigungen und Hoffnungen. Auch von Liebe. Aus ihren Erzählungen heraus versteht man auch die Ruppigkeit, mit der sie sich durch ihren ermüdenden Alltag kämpfen.
Nebenbei wird das Gesicht einer chinesischen Großstadt und ihrer Menschen gezeigt: die morgendlichen Appelle vor Arbeitsbeginn vor den Restaurants oder Supermärkten, Kindertanz als Werbung vor einer KFC-Filiale, hunderte Taxis in der Schlange an einer Tankstelle, Straßenküchen, leer stehende Fabrikgebäude, Schuhputzer, Flicker, Arbeitslose auf Jobsuche… Ein wirklich sehenswerter Film!
China Blue
von Micha X. Peled, USA 2005. Ein Dokumentarfilm, der von jungen Wanderarbeiterinnen in einer Textilfabrik im Süden Chinas erzählt, in der Jeans für den US-amerikanischen und europäischen Markt hergestellt werden. Jasmin ist 17 Jahre alt und hat erst vor kurzem ihr Dorf verlassen. Zwei Tagesreisen weit entfernt findet sie in der Lifeng-Fabrik in der Stadt Shaxi eine Stelle als Fadenabschneiderin. Der Film schildert detailliert und eindrücklich die Bedingungen, unter denen Ausbeutung hier stattfindet: ein «normaler» Arbeitstag fängt um acht Uhr morgens an und endet um 19 Uhr. Doch an den meisten Tagen werden Überstunden gemacht, oft bis zwei, drei Uhr nachts. Wenn Liefertermine anstehen, dann müssen Jasmin und ihre Kolleginnen auch die Nächte durcharbeiten. Die Löhne werden selten pünktlich gezahlt. Jasmins erster Lohn wird als Pfand einbehalten. Mit Überwachungskameras werden die Arbeiterinnen jeden Augenblick kontrolliert. Ein rigides Strafsystem ahndet jedes regelwidrige Verhalten mit Lohnabzügen.
Der Fabrikbesitzer Herr Lam ist, wie er gerne beteuert, selbst Bauer gewesen und hat sich später zum Polizeichef von Shaxi hochgearbeitet. Er geht grundsätzlich davon aus, dass er seine Arbeiterinnen gut behandelt, für die er jedoch nur widerliche Arroganz und Verachtung übrig hat: «Die Arbeiter nutzen uns aus. Wenn sie Überstunden machen, bekommen sie gratis einen Imbiss. Aber sie fälschen ihre Produktionszahlen.» Und an anderer Stelle: «Diese Bauern sind total ungebildet. Man kann ihnen keine Arbeitsmoral beibringen, das ist ihnen zu hoch.» Problematisch an dem Film ist, dass Herr Lam immer wieder Raum bekommt, sich zu rechtfertigen. Dafür, dass er so hart durchgreifen muss und alleine das Risiko trägt und nicht er, sondern seine Auftraggeber, die multinationalen Konzerne, den größten Profit machen. Er sei nur ein Opfer ihrer Preispolitik…
Vielleicht war das Filmteam selbst überrascht, in den jungen Frauen nicht einfach die Opfer der Globalisierung zu finden, die sich ihrem Schicksal fügen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Während der Dreharbeiten treten die Arbeiterinnen wegen ausstehender Lohnzahlungen in einen Streik. Jade, eine Freundin Jasmins, die erst vierzehn Jahre alt ist und nur mit gefälschten Papieren den Job bekommen konnte, wird eine der Sprecherinnen des Streiks. Es ist nicht das erste Mal, dass die Löhne über Monate nicht gezahlt wurden, und es ist nicht das erste Mal, dass die Frauen streiken. Sie nutzen ihre Macht, als ein Liefertermin ansteht, der Druck enorm ist und die Arbeiterinnen Nächte durcharbeiten sollen. n
Fußnote:
1 http://german.china.org.cn/culture/archive/film100/txt/2006-12/19/content_7530670.htm (gefunden am 14.10.2007).