von FreundInnen von gongchao
[Aus: Pun Ngai/Li Wanwei: dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin 2008]
»Im November 1993 stand in Shenzhen die Spielzeugfabrik eines Hongkonger Investors in Flammen. Die Fabrik belieferte eine bekannte europäische Spielzeugmarke. Siebenundachtzig Arbeiterinnen verloren bei dem Feuer ihr Leben, über fünfzig erlitten schwere Verbrennungen, mehr als zwanzig leichte. Die Tragödie schockte die internationale Öffentlichkeit und löste in China eine breite Debatte aus – als ob sie die ersten Opfer gewesen wären, die das globale Kapital seit Anfang der Reformen in China forderte.«1
»Nach und nach wurde es zu einem fabrikübergreifenden Streik. Auf dem Weg schlossen sich mehr und mehr Arbeiterinnen anderer Fabriken der Demonstration an – um ihre Unterstützung zu zeigen oder nur so aus Spaß. Eine Arbeiterin berichtet: ›Wir waren so viele Leute. Die Polizisten konnten uns gar nicht aufhalten!‹ Um 13 Uhr, fünf Stunden nachdem sie das Industriegebiet verlassen hatten, erreichten die Protestierenden von mindestens drei Fabriken das Gebäude der Stadtregierung. Die Menge war mittlerweile auf sieben- bis achttausend Leute angewachsen. Arbeiterinnen und Polizisten standen sich gegenüber. Die Polizei setzte einen Wasserschlauch ein, um die Demonstrantinnen zu verjagen. Sobald das Wasser stoppte, warfen die Arbeiterinnen mit Steinen.«2
Mehr als zehn Jahre liegen zwischen diesen beiden Ereignissen in der südchinesischen Industriestadt Shenzhen, dem Feuer 1993 und dem Streik 2004. Das Feuer in der Spielzeugfabrik zeigte auf dramatische Weise, unter welchen Bedingungen die Arbeiterinnen in den chinesischen Weltmarktfabriken schuften müssen, und führte im benachbarten Hongkong, damals noch britische Kronkolonie, zu einer Mobilisierung linker Aktivisten und Aktivistinnen. »Seit diesem Ereignis war uns noch mehr daran gelegen, die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter in China besser zu verstehen, denn uns wurde klar, wie eng wir alle miteinander in Beziehung standen«, schreibt Li Wanwei. Sie war in den neunziger Jahren in einer Hongkonger Organisation aktiv, die sich mit den dortigen Fabrikarbeiterinnen solidarisierte.3
Pun Ngai, heute Professorin in Hongkong, traf nach dem Feuer Überlebende und war so beeindruckt, dass sie ein Forschungsprojekt startete und die Bedingungen und Kämpfe der chinesischen Arbeiterinnen untersuchte. Sie arbeitete selbst in einer Elektronikfabrik in Shenzhen und veröffentlichte die Ergebnisse später in ihrem Buch Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Überlebenden mit ihren fortbestehenden Träumen und Sehnsüchten oder das Feuer und die Todesopfer mich am meisten dazu bewegten, dieses Buch zu schreiben.«4
Pun Ngai gründete 1996 mit einigen Mitstreiterinnen das Arbeiterinnen-Netzwerk, auf Englisch: Chinese Working Women Network (CWWN), um in Shenzhen die vom Lande gekommenen Fabrikarbeiterinnen oder dagongmei, wörtlich: arbeitende Schwestern, zu unterstützen.5 Die Aktivistinnen vom Arbeiterinnen-Netzwerk organisieren Orte, an denen sich die Frauen treffen, gegenseitig helfen und gemeinsam lernen. Sie gehen in die Fabrikwohnheime und verbreiten Informationen über Gesundheitsvorsorge und Arbeitsrecht. Zudem unterstützen sie eine Zeitung, in der Arbeiterinnen selbst über ihre Erfahrungen berichten, in Reportagen, Gedichten und Comics. Dem Netzwerk geht es um die Selbstermächtigung und Selbstorganisierung der Arbeiterinnen.
Im Jahr 2001 stieß Li Wanwei dazu, um ein Interviewprojekt mit Fabrikarbeiterinnen durchzuführen. Ziel des Projektes war es, den Frauen eine Stimme zu geben, wie der Originaltitel des 2006 aus den Interviews entstandenen und hier in Übersetzung vorliegenden Buches ausdrückt: Stimmen der Stimmlosen. Zeugnisse chinesischer dagongmei. Für das Arbeiterinnen-Netzwerk hatten die Interviews auch den unmittelbar praktischen Sinn, aus konkreten, aktuellen Erfahrungen des Widerstands für zukünftige Kämpfe zu lernen. Der oben erwähnte Streik von 2004 zeigt, dass die dagongmei mittlerweile wussten, wie sie sich zur Wehr setzen können.
Die dagongmei
»Der chinesische Begriff des dagong [打工 arbeiten, jobben] drückt den Verwandlungsprozess von Individuen in Arbeiterinnensubjekte aus, die in erster Linie für einen »kapitalistischen Chef« arbeiten; mei [妹 kleine Schwester] zeigt darüber hinaus den geschlechtsspezifischen Status des unter besonderen Bedingungen entstehenden Arbeiterinnensubjekts an. Der Begriff dagong weist darauf hin, dass die Arbeitsbeziehungen über den Markt geregelt werden. Dagong bedeutet »für den Chef arbeiten« und unterstreicht so die Kommodifizierung der Arbeitskraft, oder einfach den Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn. In den vergangenen zwanzig Jahren sind dagongmei und dagongzai [仔 Sohn] in China zu häufig verwendeten Vokabeln geworden. Sie stehen in deutlichem Gegensatz zum Begriff der gongren [工人], Arbeiterinnen und Arbeiter, und zu wuchan jieji [无产阶级], Proletariat, die in Zeiten Mao Zedongs viel mehr benutzt wurden. Die gongren erfreuten sich in der damaligen Zeit einer im Vergleich zu den Bauern privilegierten gesellschaftlichen Stellung. Die staatliche Propaganda bezeichnete die gongren als die Herren des Landes. Im chinesischen Sozialismus hätten sich die gongren von der Entfremdung befreit und im Produktionsprozess als neuer Idealtypus eines Subjekts verwirklicht. Tatsächlich haben die gongren in den dreißig Jahren Realsozialismus für den Staat gearbeitet, der den »sozialistischen Chef« abgab und nicht nur Lohn zahlte, sondern auch eine lebenslange Beschäftigung, Unterkunft, Krankenversorgung und die Ausbildung der Kinder garantierte. Alles in allem gab es in China den Versuch, die kapitalistischen Klassenbeziehungen zu ändern und eine spezielle Form der sozialistischen Klassenbeziehungen zu schaffen. Dagong bedeutet nicht nur den Abschied von den »sozialistischen Chefs«, sondern verweist auch auf das Auftauchen der neuen Chefs des globalen Kapitalismus. Dagong bedeutet, dass die Arbeiterinnen keinen Schutz mehr genießen. Sie werden temporär beschäftigt und können jederzeit gekündigt und durch billigere Arbeitskräfte ersetzt werden. Der Wert des dagong wird, wenn es einen gibt, über den Markt festgesetzt. Die Kapitalisten pressen dieser Arbeitskraft Mehrwert ab, um Profit zu realisieren. Anders gesagt, dagong signalisiert den Übergang von sozialistischen zu kapitalistischen Arbeitsbeziehungen.«6
Im Zuge der Reformen des maoistischen Chinas seit 1978 wurden in den Ostküstenprovinzen mit ausländischer Technologie neue Industriekomplexe hochgezogen, in denen mit der migrantischen Arbeitskraft aus dem chinesischen Hinterland für den Weltmarkt produziert wird. In der Vergangenheit waren an Orten derartiger kapitalistischer Expansion oft große Arbeiterbewegungen entstanden. Nach Beverly Silver führte jeweils die zweite Arbeitergeneration, also die Nachfolger derer, die als erste vom Land in die Fabrik gekommen waren, große Wellen von Unruhen an. China sollte keine Ausnahme bilden.7 In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass sich mit der Entwicklung vom sozialistischen Armenhaus zur globalen Wirtschaftsmacht eine neue Arbeiterklasse formiert hat, die sich bewegt und ihre Ansprüche geltend macht. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen die dagongmei.8
Die jungen Frauen vom Land ziehen meist gleich nach Abschluss der Schule und noch als Teenager in die Stadt, um in den Fabriken zu arbeiten. Ihnen geht es nicht nur darum, Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. Sie haben auch Sehnsucht nach dem »modernen« Stadtleben, sie versprechen sich Unabhängigkeit und werden angelockt vom Konsumspaß. Fünf bis zehn Jahre verbringen sie in der industriellen Knochenmühle. Wenn sie Mitte zwanzig sind, kehren sie – durch die anstrengenden, langen Arbeitstage in den Fabriken ausgelaugt und oft krank – ins Dorf zurück, um zu heiraten. Viele ziehen später wieder los, aber das rigide Haushaltsregistrierungssystem (hukou),9 die hohen Preise und die Ausgrenzung durch die städtische Bevölkerung verhindern bisher, dass sie sich dauerhaft in den Städten niederlassen. Während sie in den Fabriken arbeiten, wohnen sie in beengten, schlecht ausgestatteten Wohnheimen, die vom Staat gestellt oder von den Unternehmen selbst gebaut wurden – meistens direkt am oder auf dem Fabrikgelände. Das ermöglicht die Rund-um-die-Uhr-Kontrolle der Arbeiterinnen, die Ausdehnung des Arbeitstags, die Reduzierung der Reproduktionskosten für Essen und Miete und damit der Löhne. Pun Ngai nennt dies das Wohnheim-Arbeitsregime.10 Besonders ausgeprägt ist dies in den industriellen Zentren und Sonderwirtschaftszonen im Yangtse-Delta (u.a. Shanghai) und im Perlflussdelta (u.a. Shenzhen, Dongguan, Zhuhai, Guangzhou). Die Bedingungen in bestimmten Sektoren und Unternehmen unterscheiden sich erheblich. Fabriken mit modernen Fertigungstechniken stehen neben Klitschen mit alten, gefährlichen Maschinen. Es gibt zwar auch sogenannte »Schwarzfabriken«, die ohne jede Genehmigung produzieren, aber generell hält sich kaum eine Unternehmensleitung an Gesetze und Mindeststandards – mit Duldung der Behörden, die an vielen Betrieben beteiligt sind und selbst von der Ausbeutung profitieren. In einigen Industriesparten, die harten Konkurrenzbedingungen am Weltmarkt ausgesetzt sind, wie Textilien und bestimmten Elektronikbereichen, ist der Ausbeutungsdruck besonders hoch: Die Arbeiterinnen werden bis zum Umfallen zur Arbeit angetrieben und es herrscht Heuern und Feuern.
Die jungen Frauen, die in den Weltmarktfabriken die Mehrheit stellen, sind einer »dreifachen Unterdrückung« (Pun Ngai) ausgesetzt: das in- und ausländische Kapital beutet sie aus und stellt sich ihren Versuchen entgegen, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern; der sozialistische Staat verhindert, dass sie sich in den Städten niederlassen und unabhängig organisieren; die patriarchalen Strukturen und Ideologien, die der Maoismus nie zerstört hat, schränken ihre Möglichkeiten ein, selbst über ihr Leben zu entscheiden und setzen sie unter Druck, die traditionelle Frauenrolle in Familie und Gesellschaft auszufüllen. Die dagongmei wehren sich gegen alle drei miteinander verzahnten Formen der Unterdrückung.
Das Kapital bringt die Arbeiterinnen und Arbeiter, oft mit dem Staat als Arbeitsvermittler, in den Fabriken und Wohnheimen zusammen. Aus der Perspektive der jungen Frauen ist die Wanderung und die Arbeit in der Fabrik auch ein Akt der Rebellion, ein Ausbruch aus den patriarchalen Zwängen des Dorfes. Gegenüber dem Kapital nutzen sie das Zusammenkommen auf dem Terrain der Fabrik, um ihren Kampf gegen die extreme Ausbeutung, den Maschinenrhythmus und die Fabrikdisziplin zu organisieren. Sie greifen zu alltäglichen Widerstandsformen: Bummelei, Ausdehnung der Pausen, kleinere Sabotage … und Streiks. Viele Arbeiterinnen hauen auch einfach ab, wenn der Lohn nicht ausgezahlt wird oder der Job zu anstrengend, langweilig oder gefährlich ist. Das »Jobhopping«, im Chinesischen 跳槽, tiaocao, ist für viele Unternehmer ein ständiges Problem.
Das Regime unterdrückt unabhängige Organisierungsversuche und lässt vermeintliche »Rädelsführer« von Streiks und Widerstandsaktionen verhaften. Einzelne Kämpfe sollen isoliert werden. Um ihre Ausbreitung auf andere Fabriken und Regionen zu verhindern, kommen Unternehmer und lokaler Staat den Forderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen aber auch immer wieder entgegen.
Ab 2003, etwa zehn Jahre nach Beginn der großen Wanderung, nahmen die Kämpfe der dagongmei – und der Wanderarbeiterinnen und -arbeiter insgesamt – erheblich zu.11 Die Position der »zweiten Generation« der dagongmei hat sich verändert. Sie sind nicht mehr die unerfahrenen Bäuerinnen, sondern haben gelernt, sich in der Stadt zurechtzufinden.
Anders als ihre Vorgängerinnen haben sie Mobiltelefone, gehen ins Internetcafé, suchen sich in der Stadt Freundinnen und Partner. Selbst wenn sie auf dem Land aufgewachsen sind, haben sie dort schon viel von den zurückgekommenen Arbeiterinnen gelernt. Der familiäre Druck hat sich gelockert, den dagongmei bleibt heute mehr Freiraum und mehr Geld, über das sie verfügen können. In den letzten Jahren haben sie wertvolle Erfahrungen im Kampf mit den Fabrikbossen und staatlichen Kadern sammeln können. Sie sind lauter, fordernder und militanter als die Generation davor und profitieren vom bisher anhaltenden Boom, der in den Industriezentren zu einer Arbeitskräfteknappheit geführt hat.
Ihre Löhne sind kontinuierlich gestiegen, mit Zuwachsraten von etwa zwanzig Prozent in den Jahren 2005 und 2006. Ihre Lebensbedingungen haben sich dadurch verbessert … aber sie erwarten weitere Fortschritte.
Sub-Genre des Widerstands
Die hier auf Deutsch vorliegenden biographischen Geschichten wurden auf Grundlage der Interviews von Frauen des Arbeiterinnen-Netzwerks verfasst: Zitierte Erzählung der dagongmei und überleitender, kommentierender Bericht wechseln sich ab. Die Interviewerinnen aus Hongkong sind beteiligt, emotional engagiert und bestätigend, aber auch fragend, zweifelnd. Zuweilen äußern sie sich gegenüber den dagongmei besorgt oder fürsorglich, was für westliche Ohren paternalistisch klingen mag, in China aber Ausdruck von Nähe und Sympathie ist.
Als Buch richten sich die Zeugnisse an die Öffentlichkeit, aber im Prozess der Interviews und des Erzählens ging es zunächst und wesentlich um Selbstverständigung. Die dagongmei erzählen ihre Lebensgeschichte sich selbst und anderen. Vertrauen zu fassen, sich auseinanderzusetzen mit der eigenen Geschichte, zusammen mit anderen dagongmei und den Interviewerinnen, war für alle Beteiligten ein Lernprozess. Alle Widersprüche, die sich aus ihrer Herkunft vom Land, aus dem Wunsch nach »Modernität« und der Teilhabe an den Errungenschaften des wirtschaftlichen Aufschwungs ergeben, tauchen in den Geschichten auf. Sie sind Arbeiterinnen, haben aber ihre ländliche Heimat nicht endgültig verlassen. Sie klemmen zwischen Stadt und Land, ohne eine endgültige Entscheidung über ihre Lebensperspektive fällen zu können. Sie versuchen sich von der Kontrolle durch die patriarchale Familie zu befreien, halten aber am Wunsch nach Heirat und Kindern fest. Sie haben Träume und Sehnsüchte, können aber vieles nicht umsetzen.
In den Erzählungen wird deutlich, wie sie ihre Reproduktionsbedingungen und die Ausbeutung in den Fabriken erfahren: als Beschneidung ihres Lebens, ihrer Gesundheit, als aufgezwungenen Mangel, als unerträglich. Gleichsam in der Tradition des suku (诉苦),
des Erzählens und Ausdrucks der Bitterkeit und der sozialen Wut, zu der die Arbeiterinnen und Bauern in den fünfziger Jahren von kommunistischen Aktivisten angehalten wurden, äußern die dagongmei ihre Erfahrungen der Ausbeutung und ihre Wünsche nach Veränderung. Oft müssen sie erst ihre Sprachlosigkeit überwinden, nach Worten suchen – und nach Menschen, die zuhören. In ihre Berichte mischen sich die Schmerzen und Freuden der Erinnerung, einschneidende Erlebnisse werden wieder wachgerufen. Es ist ihre Wiedergabe der Geschichte, subjektive Erzählung, geformt durch ihre Vorstellungen von Moral und Pflicht.
Pun Ngai sieht in den Zeugnissen ein »Sub-Genre des Widerstands« der Arbeiterinnen. Dieses Sub-Genre dokumentiert die lauten und lautlosen Widerstandsformen der dagongmei in der Zeit der gesellschaftlichen Umwälzung Chinas. Hier erzählen die Subjekte der »stillen sozialen Revolution«: »Ein Sub-Genre des Widerstands konzentriert sich auf die persönlichen Berichte. Seine magische Kraft liegt nicht darin, Erzählungen von Individuen zu einer kollektiven Artikulation zu verallgemeinern, sondern unmittelbar aufzuzeigen, dass es keine individuelle Geschichte gibt, die nicht auch eine historische Erzählung ist.«12
Die Interviews führen die dagongmei, die im Diskurs über das moderne China kaum als Subjekte vorkommen, heraus aus ihrer »abwesenden Präsenz«.13 Die kleinen Geschichten sollen die falschen Konstruktionen der großen Geschichte aufdecken, lokale Subjektivitäten im Kontext eines globalen Kapitalismus sichtbar machen. Sie machen deutlich, dass hinter der Modernisierung und dem wirtschaftlichen Aufschwung Chinas eine andere Realität existiert – die der verpesteten und lauten Fabrikhallen, der überfüllten Wohnheime, die des Gehetztseins und der abgequetschten Finger. Die kleinen Geschichten zeigen aber auch, wie sowohl die Trennung zwischen Stadt und Land als auch die geschlechtliche Differenz die Organisation der Ausbeutung bestimmen und Grundlage der Klassenhierarchie sind. Und die Schilderungen des alltäglichen Widerstandes
und der Streiks der dagongmei belegen, dass sie nicht die fügsamen Mädchen mit den flinken Fingern sind, welche die Kader und Kapitalisten erwarten, die sie in ihre Fabriken holen und ihrer Disziplinarmacht unterwerfen wollen.
Die Erzählungen der dagongmei sind auch ein Beitrag zum globalen Austausch proletarischer Erfahrungen und zur Untersuchung der Neuzusammensetzungsprozesse der Arbeiterklasse. Sie können uns helfen, die Möglichkeiten sozialer Umwälzungen und Perspektiven einer Welt jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung zu erkennen. Die Kämpfe der Wanderarbeiterinnen und -arbeiter werden nicht nur das Gesicht Chinas, sondern das der Welt verändern. Ein Viertel aller Arbeiterinnen und Arbeiter auf der Welt leben in China. Die lokalen Bedingungen und die patriarchalen Regimes in den Fabrikzonen Chinas unterscheiden sich von den Geschlechter-, Macht- und Arbeitsverhältnissen im Westen, aber wir sehen uns – verbunden über zahlreiche Produktions- und Reproduktionsketten – denselben Akteuren des globalen Kapitals gegenüber.
Das Buch
In deutschsprachigen Medien tauchen die Bedingungen in den Fabriken und Wohnheimen Chinas, die Konflikte der dagongmei sporadisch auf, über ihre Kämpfe erfahren wir bisher nur wenig. Wer genauer hinschaut, stößt auf trockene und auch entsetzliche Zahlen: 150 bis 200 Millionen Wanderarbeiter- und arbeiterinnen, Hunderttausende Arbeitskonflikte und Aufstände, 100 000 Tote durch Arbeitsunfälle pro Jahr. Aber wir wissen wenig über die Menschen hinter den Zahlen, über das Leben, die Gedanken und Träume der dagongmei, über die Bindungen, Widersprüche, Nöte und Möglichkeiten, wie sie im Alltag der einzelnen zum Tragen kommen. Uns fehlt der subjektive Blick der Arbeiterinnen, der ihre Welt erst greifbar macht und zeigt, welche Chancen auf Veränderung sie selbst sehen.
In Absprache mit den chinesischen Herausgeberinnen haben wir das Buch für die deutsche Ausgabe neu zusammengestellt. Im Anschluss an das Vorwort und kurze Anmerkungen zur jüngeren Geschichte Chinas folgen zwölf Geschichten der dagongmei, wie im Original in vier Abschnitte eingeteilt: Die Heimat verlassen, Selbst über die Heirat entscheiden, Bittere Wanderarbeit und Mit den Kämpfen gereift.14 Fußnoten erklären einzelne Begriffe, komplexere Zusammenhänge sind mit Sternchen (*) markiert und werden im Glossar am Ende des Buches erläutert. Auf den letzten Seiten des Buches finden sich als Orientierungshilfe Karten von China, dem Perlflussdelta und Shenzhens. Gleich hinter den Geschichten erscheinen die Nachbetrachtungen von Li Wanwei, die sie für die deutsche Ausgabe des Buches formuliert hat. Sie beschreibt darin die Motivation der Frauen vom Arbeiterinnen-Zentrum in Shenzhen und ihr Verhältnis zu den dagongmei. In den Erzählungen der dagongmei scheint der konkrete Arbeitsprozess in den Fabriken immer wieder durch, ohne genau analysiert zu werden. Daher haben wir ein Kapitel aus Pun Ngais Buch Made in China übersetzt. In Sozialer Körper, Kunst der Disziplin und Widerstand untersucht sie anhand der Elektronikfabrik, in der sie gearbeitet hat, wie versucht wird, die dagongmei rund um die Uhr zu kontrollieren und sie zu maximaler Arbeitsleistung anzutreiben. Aus der Perspektive der einfachen Produktionsarbeiterinnen führt uns die Autorin den Charakter des Ausbeutungsregimes und der Disziplinarmacht der Fabrik eindringlich vor Augen und zeigt, wie sich die Arbeiterinnen gegen Maschinentakt und despotische Vorgesetzte wehren.
Freundinnen und Freunde von gongchao, Juli 2008
Anmerkungen zur jüngeren Geschichte Chinas
Nach den sozialen und politischen Tumulten der sechziger und siebziger Jahre brauchte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine neue Strategie, um die verkrusteten Produktionsverhältnisse aufzubrechen, die Wirtschaft anzukurbeln und die eigene Macht abzusichern. Bei der Reformierung der sozialistischen Planwirtschaft stand sie von Anfang an unter dem Druck der Bauern und des städtischen Proletariats.
Beide hatten genug von Armut und Stagnation und verlangten Veränderungen, die ihnen ein besseres Leben ermöglichen. Während sich die Lage auf dem Land Anfang der achtziger Jahre durch die Verteilung der Äcker an die Haushalte drastisch änderte und tatsächlich verbesserte, bewirkten die ersten Reformen in den Städten zunächst wenig. Die Einführung von Arbeitsverträgen, die die lebenslange Beschäftigung in den staatlichen Kombinaten ablösen sollten, und die Stärkung des Managements in den Betrieben sorgten für Unruhe unter den städtischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Schon Mitte der achtziger Jahre gab es erste Streikwellen. 1989 eskalierte die Situation mit der Tian’anmen-Bewegung, hinter der nicht nur die Forderungen nach einem Ende von Parteidiktatur und Korruption standen, sondern auch die Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen, die weit hinter den Erwartungen zurückblieben.
Der große Reformschub kam Anfang der neunziger Jahre. Die Parteiführung wollte weitere soziale Zuspitzungen wie 1989 verhindern. Sie holte in großem Maßstab ausländisches Kapital und moderne Technologien ins Land. Der sozialistische Staat garantierte günstige Ausbeutungsbedingungen – niedrige Löhne, Steuerbefreiungen und die Repression unabhängiger Arbeiterorganisationen – und investierte selbst in Infrastruktur- und Industrieprojekte. Vor allem mit Hilfe des Kapitals von Auslandschinesen expandierte die Konsumgüterindustrie enorm – Kleidung, Schuhe, Spielzeug, Elektronik. Guangdong und andere Ostprovinzen entwickelten sich zum »Fließband der Welt«. Die billigen Arbeitskräfte für die neuen Fabriken wurden auf dem Land angeworben. Bis heute gehören schätzungsweise 150 bis 200 Millionen meist junge Leute zu den mingong, den Bauernarbeitern und -arbeiterinnen, die aus den Dörfern in die Industriezentren am Yangtse (Shanghai), am Perlfluss (Guangzhou, Shenzhen) oder um Beijing/Tianjin ziehen.
Um den Zustrom der Arbeitskräfte zu gewährleisten, musste die KPCh die strikte Kontrolle der Wanderung lockern. Seit den fünfziger Jahren war eine rigide Grenze zwischen der ländlichen und der städtischen Bevölkerung gezogen worden. Der Staat verfolgte über die Haushaltsregistrierungsgesetze (hukou) eine Strategie des Ausschlusses und der Migrationskontrolle. In den Städten erhielten die Arbeiter und Arbeiterinnen – die gongren – gesicherte Arbeitsplätze, Wohnungen, medizinische Versorgung und Renten, die sogenannte »Eiserne Reisschüssel «. Die Bauern hatten Anrecht auf ein Stück Land und wurden auf dem Dorf einer Volkskommune zugeordnet. Mit Beginn der Reformen nach 1978 bekamen sie das Stück Acker zur Pacht und konnten es selbst
bewirtschaften. Die hukou-Gesetze gelten in abgeschwächter Form bis heute, und die Landbevölkerung stellt noch immer etwa siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung. Erst in den neunziger Jahren wurden Bestimmungen erlassen, die es vielen Leuten vom Land ermöglichten, vorübergehend in der Stadt zu leben und zu arbeiten.
Im Prozess wirtschaftlicher Expansion, Urbanisierung und Proletarisierung entstanden nun mehrere migrantische Arbeitersubjekte wie die Bauarbeiter, die Hausangestellten und die größte Gruppe, die Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen (dagongmei, dagongzai).
Mitte der neunziger Jahre begann der entscheidende Angriff auf den staatlichen Sektor. In den staatlichen Betrieben wurden die Löhne gespreizt und die Arbeitsintensität weiter gesteigert. Große und profitable Kombinate wurden in Unternehmen mit kapitalistischer Arbeitsorganisation umgewandelt, viele auch privatisiert – ausgenommen vor allem strategisch wichtige Bereiche, zum Beispiel der Energie- und der Rüstungssektor. Die meisten anderen staatlichen Unternehmen wurden nach und nach dichtgemacht. Schätzungen sprechen von 50 Millionen Entlassenen in den Jahren nach 1997. Die alte Arbeiterklasse kämpfte gegen die Entlassungen, die Nichtzahlung von Löhnen und die Unterschlagung von Abfindungen und Arbeitslosengeldern und konnte dabei auf ihre sozialen Zusammenhänge in den proletarischen Vierteln der Städte zurückgreifen. Schwerpunkt der Auseinandersetzungen war der Nordosten des Landes. Diese zum Teil großen Bewegungen konnten den Prozess der Umstrukturierung aber lediglich verlangsamen und den Staat zwingen, durch Sozial- und Arbeitsprogramme die schlimmsten Folgen für die Betroffenen zu lindern. Viele der ehemaligen gongren bilden heute einen Teil der städtischen Armen, die sich mit Gelegenheitsjobs und Kleinselbständigkeit über Wasser halten.
Die selektive Schleifung der Kombinate und der Aufbau eines privaten Sektors mit staatlicher Unterstützung veränderte die Sozialstruktur Chinas enorm. Während bis in die achtziger Jahre hinein die sozialen Unterschiede vergleichsweise gering waren, gehört China seitdem zu den Ländern mit der größten sozialen Ungleichheit. Zwar leben viele Bauern und die meisten Wanderarbeiterinnen, die zusammen mit den städtischen Arbeitslosen und working poor achtzig bis neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, heute besser als zur Zeit des Maoismus. Aber bei dem Aufbau neuer Industrien, der Ausweitung des privaten Handels und dem Boom im Bau- und im Energiesektor profitieren vor allem die Familien der Parteikader, hohen Militärs, staatlichen Angestellten und Akademiker in den Städten. Sie eigneten sich staatliche Unternehmen an, beteiligten sich an Neugründungen oder profitierten von der Korruption. Diese
politischen und wirtschaftlichen Eliten sind eng verzahnt und bilden heute die loyale Stütze der Macht.
Neben den Staatsarbeitern und -arbeiterinnen, die weiter gegen Umstrukturierung und Entlassungen protestieren, und den Bauern und Bäuerinnen, die sich gegen Enteignungen, Steuerlasten und Korruption wehren, gehören die Wanderarbeiter und -arbeiterinnen heute zu den drei für das KP-Regime »gefährlichen Klassen«.
Fußnoten
1 Pun Ngai: Geschichte eines Feuers. Vorwort zur chinesischen Ausgabe dieses Buches (2006).
2 Bericht über einen Streik im Jahr 2004 in: Chris Chan / Pun Ngai: From Legality-based to Interestoriented Labor Protests: A Study of Collective Actions of Migrant Workers in South China. Unveröffentliches Manuskript, Hongkong, 2007.
3 Li Wanwei: Meine Begegnung mit den dagongmei, April 2008, S. 189-199 in diesem Buch.
4 Pun Ngai: Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace. London/Hongkong: Duke University Press 2005. Die deutsche Übersetzung des dritten Kapitels, Sozialer Körper, Kunst der Disziplin und Widerstand, S. 201-241 in diesem Buch.
5 Informationen unter www.cwwn.org.
6 Pun Ngai: Geschichte eines Feuers, a.a.O.
7 Siehe Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin: Assoziation A 2005: 136 f. In China führen allerdings nicht die Automobilarbeiter und -arbeiterinnen, wie von Beverly Silver vermutet, die Kämpfe an, sondern die Arbeiterinnen anderer Sektoren.
8 Der Anteil der dagongmei an den Wanderarbeiterinnen und -arbeitern ist regional unterschiedlich. »47,5 Prozent aller WanderarbeiterInnen sind Frauen, aber in Zentren der Weltmarkproduktion sind es viel mehr, in Shenzhen zum Beispiel 65,6 Prozent.« Gesichter der Wanderung. Lage und Proteste der »neuen« Arbeiterklassen. In: »Unruhen in China«, Beilage der Zeitschrift Wildcat #80, Dezember 2007: 19.
9 Erklärung im Glossar S. 243-255.
10 Siehe »Chinas Wanderarbeiterinnen: Dreifaches Trauma im dormitory labour regime«, Interview mit Pun Ngai, in: WEED (Hrsg.): High-Tech-Sweatshops in China. Arbeitsrechte im internationalen Standortwettbewerb und die Perspektiven von Corporate Social Responsability, Bonn: WEED, September 2007: 25-31; »Schlafsaalkapitalismus in Shenzhen«, in: Perspektiven. Magazin für linke Theorie und Praxis, Nr. 3, Herbst 2007 (www.perspektiven-online.at/artikel/schlafsaalkapitalismus-in-shenzhen, Abruf: 20.07.2008); Pun Ngai and Chris Smith. »Putting
Transnational Labour Process in its Place: The Dormitory Labour Regime in Post-Socialist China«. Work, Employment and Society, Vol 21 (1) (2007): 27-45.
11 Genaue Zahlen für die Kämpfe von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern gibt es nicht, aber die vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit gemeldeten »größeren Vorfälle« – gemeint sind soziale Kämpfe – sind zwischen 1993 und 2005 von 11 000 auf fast 90 000 gestiegen. Siehe Ching Kwan Lee: Against the Law. Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2007: 5. »Die Arbeitsauseinandersetzungen, die zur Schlichtung führen, sind zwischen 2000 und 2005 von 135 000 auf 314 000 gestiegen, ein jährlicher Zuwachs von durchschnittlich 18,4 Prozent.« Chris Chan and Pun Ngai, a.a.O.
12 Siehe Pun Ngai: Made in China, a.a.O.: 19, 22 und 193. Zum Sub-Genre des Widerstands siehe auch Pun Ngai: Opening a Minor Genre of Resistance in Reform China: Scream, Dream, and Transgression in a Workplace. Positions: East Asia Cultures Critique. Vol. 8 (2) (2000): 531-555.
13 Lisa Rofel: Other Modernities. Gendered Yearnings in China After Socialism. London 1999: 96.
14 Vier weitere Erzählungen sowie die Vorworte der chinesischen Fassung von Pun Ngai und Gu Xuebin finden sich in deutscher Übersetzung auf www.gongchao.org. Dort werden auch Interviews mit Pun Ngai und Li Wanwei sowie andere Texte zum Thema veröffentlicht.