Nachwort: Meine Begegnung mit den dagongmei

von Li Wanwei


[Aus: Pun Ngai/Li Wanwei: dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Assoziation A, Berlin 2008; hier auch als PDF]

Beim erneuten Durchsehen der Interviews und Aufzeichnungen des Projekts »Die dagongmei erzählen ihre Geschichte« stieß ich zufällig auf diesen Brief vom 2. Mai 2002:

»Ich habe gerade keine Arbeit und warte nur auf den Dienstag und den Donnerstag, um dann loszugehen und mir Lotterielose zu kaufen. Aber momentan geht alles schief! Das Geld, das mir nach Jahren der Arbeit geblieben war, ist vollkommen aufgebraucht, und bei mir herrscht ein komplettes Durcheinander… Zwar habe ich auch glückliche Erinnerungen an Shenzhen, aber weit schwerer wiegen die vielen schmerzlichen Erfahrungen, an die ich nicht mehr zu denken wage. Dabei ging es um Würde und Scheitern, und ich glaube nicht, dass ihr das nachempfinden könnt.«

A’chun ist eine dagongmei aus einem Dorf in der Provinz Guangxi und gehört zu den Arbeiterinnen, die im Buch über die dagongmei interviewt werden. Die Überschrift ihrer Geschichte lautet: »Heimweh und Fernweh«.1

Ihr Brief hat für mich erneut Fragen aufgeworfen. Durch das Interviewprojekt hatte ich ab 2001 mit den dagongmei zu tun. Ich hörte mir ihre Lebensgeschichten an und sprach mit ihnen über ihre Arbeitserfahrungen. Aber haben sich unsere jeweiligen Lebensabläufe danach tatsächlich gegenseitig beeinflusst? Welche Bedeutung hatte es für sie, anderen Leuten ihre eigene Geschichte zu erzählen? Und welche Bedeutung hatte es für uns, ihre Geschichten zu hören und in ihre innerste Welt vorzudringen? Ich hoffe, ich kann die Fragen in diesen späten Nachbetrachtungen beantworten.

Von Hongkong nach China

Meine Eltern gehören zur ersten Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen, die nach dem chinesischen Bürgerkrieg Ende der vierziger Jahre nach Hongkong übersiedelten. Sie arbeiteten hart, um ihre Familie zu ernähren, und trugen ihren Teil zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Sie gehörten zur Unterschicht Hongkongs und hatten Schwierigkeiten, eine eigene Identität zu finden. So setzten sie sich mit allen Kräften dafür ein, dass ihre Tochter auf die Universität gehen und die soziale Leiter hinaufsteigen konnte. Ich dagegen begeisterte mich auf der Universität und danach für linke Ideale und hatte den immer stärkeren Wunsch, mich an der Organisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu beteiligen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Intellektuellen und Arbeiterinnen setzte ich mich für eine bessere Gesellschaft ein. Diese Entscheidung für einen »sozialen Abstieg« haben meine Eltern bis heute nicht verstanden, geschweige denn unterstützt.

Mir ist aber klar geworden, dass sie als Teil der Arbeiterschaft Hongkongs und nach über vierzig Jahren Arbeit, von ihrer Jugend bis ins Alter, im Grunde für diese Gesellschaft, in der die Interessen des Kapitals an höchster Stelle stehen, nichts übrig haben können. Obwohl sie über siebzig sind, bekommen sie im wirtschaftlich florierenden Hongkong keine Rente. Nachdem ihre Arbeitskraft ausgebeutet worden ist, haben sie keine Chance auf Anerkennung und angemessene Entschädigung für ihre lebenslange Schufterei. Wie auch die heutige Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen mittleren Alters in Hongkong wurden sie vom Kapital erst vernutzt und dann abgeschoben. Wie sich die Situationen ähneln!

Anfang der neunziger Jahre begann ich bei einer Arbeiterorganisation zu arbeiten, dem Industrial Relations Institute (Institut für Arbeitsbeziehungen, Hongkong). Dort traf ich auf eine Gruppe von Fabrikarbeiterinnen, die in Hongkong geboren und aufgewachsen waren. Sie waren schon früh in die Fabrik gekommen, um zu arbeiten und ihre Familien zu unterstützen. Als das Kapital in den neunziger Jahren massiv gen Norden in die Volksrepublik China zog, waren sie die ersten Leidtragenden. Sie verloren ihre qualifizierte Arbeit und sahen sich gezwungen, den Beruf zu wechseln. Als Arbeiterinnen mittleren Alters mussten sie ihre Lebenssituation neu überdenken. Wir haben uns mit ihnen zusammengetan und gemeinsam einen Ausweg gesucht. Die Arbeiterbewegung spielte in Hongkong seit langem kaum eine Rolle, und es war äußerst schwer, eine Organisation zu schaffen, mit der sich die Arbeiterinnen identifizieren und bei der sie mitmachen würden. Wir besprachen in der Gruppe die schlimme Lage der Arbeiterinnen in Hongkong und den Konflikt zwischen der »ortsansässigen Unterschicht« und dem nicht endenden Strom der proletarischen und bäuerlichen Einwanderer aus der Volksrepublik. Wir diskutierten auch, ob die neue Arbeiterklasse Chinas, die die Arbeitskraft der mit Kapital aus Hongkong aufgebauten Fabriken stellte, den Arbeiterinnen und Arbeitern Hongkongs die Lebensgrundlage entriss. Angesichts der immer größeren Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich in Hongkong und China erkannten wir, dass die Ursache des Konflikts nicht im Verhältnis zwischen den Unterklassen zu finden ist. Uns war klar, dass auch die unteren Arbeiterschichten Hongkongs immer mehr Schwierigkeiten hatten und keine soziale Absicherung erhielten. Und wir erkannten, dass der wirtschaftliche Aufschwung Chinas von unzähligen Arbeitsunfällen begleitet war, und dass die schwachen, vom Land gekommenen dagongmei und dagongzai einen hohen Preis zahlen mussten.

Am 19. November 1993 kam es in der von Investoren aus Hongkong betriebenen Zhili-Spielzeugfabrik in Shenzhen zu einem großen Feuer. Es kostete siebenundachtzig jungen Arbeiterinnen das Leben, mehr als fünfzig wurden schwer verletzt. Für die Menschen in Hongkong und China war das ein Schock. Seit diesem Ereignis war uns noch mehr daran gelegen, die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter in China besser zu verstehen, denn uns wurde klar, wie eng wir alle miteinander in Beziehung standen. Im Jahr 2001 startete die Gruppe »Frauen-Netzwerk«, die später in »Arbeiterinnen-Netzwerk«2 umbenannt wurde, das Projekt »Die dagongmei erzählen ihre Geschichte«. Ich sah darin eine einmalige Gelegenheit, persönlich mit den Arbeiterinnen Chinas in Kontakt zu kommen. Die Frauen vom Netzwerk meinten, dass meine langjährige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Arbeiterinnen in Hongkong bei dem Austausch mit den dagongmei hilfreich sei. Somit ging ich von Hongkong nach China und begann, Kontakte zu den dagongmei zu knüpfen.

Streben nach Veränderung

Ich denke an die zahllosen Abende und Nächte, die ich mit den dagongmei in den Wohnheimen, Betriebskantinen und Parks verbrachte. Sie erzählten mir, wie sie aufgrund ihres ungewohnten Aussehens von den Stadtbewohnern komisch angeschaut wurden. Am Tag ihrer Ankunft in Shenzhen waren sie ohne Bleibe und mussten die Nacht in einem Kino oder auf der Straße verbringen. Als sie dann eine Arbeitsstelle hatten und den ersten Lohn bekamen, gaben sie gleich eine Stange Geld aus, um sich zu betrinken und zu amüsieren. Die Chefs in der Fabrik drängten sie, Überstunden zu machen, aber viele Kollegen und Kolleginnen widersetzten sich und organisierten Bummelstreiks … Ich als Fremde bekam nun Einblick in das Leben dieser jungen Leute vom Land, die so rastlos und voller Sehnsucht waren und ihr Leben nicht auf dem Land verbringen wollten, getreu dem alten Motto »Unter mir der Acker und über mir der Himmel«.3 Stattdessen waren sie auf den Zug gesprungen, der sie in die Städte des Südens gebracht hatte, wo sie nun fern der Heimat Glück und Elend des Arbeiterinnendaseins durchlebten.

Die dagongmei strebten vor allem nach einem unabhängigen Leben. Sie kamen Mitte der neunziger Jahre in die Städte, weil sich ihnen dort – im Vergleich zum immer gleichen Leben auf dem Land – eine Unzahl von Möglichkeiten bot. Die siebzehnjährige Qing stammt aus einem Dorf in der Provinz Jiangxi. Ihre Geschichte im Buch trägt den Titel: »Vorübergehender Aufenthaltsort«.4 Sie sagte damals:

»Seit ich klein war, hatte ich noch nie das Dorf verlassen. Ich stellte mir vor, wie aufregend die Welt da draußen ist. Ich wollte raus und neue Sachen erleben, wollte schauen, ob es dort einen Platz für mich gibt.«

A’chun aus der Provinz Guangxi sah auf dem Land, wie gut die jungen Frauen gekleidet waren, die vom Arbeiten zurückkehrten. Da sie erfolgreich und glücklich aussahen, wollte A’chun selbst losziehen, um ihr Glück zu versuchen und Erfahrungen zu sammeln.

Unter den Arbeiterinnen, die ich interviewte, waren viele, die wegen einer arrangierten Heirat oder einer enttäuschten Liebe aus der Heimat flohen. Die Geschichte von Xiuqing aus der Provinz Sichuan werde ich nie vergessen. Sie ging fort, um den Schlägen und sexuellen Misshandlungen ihres Ehemannes zu entkommen. Aufgrund der dörflichen Traditionen ist es für Frauen nicht leicht, sich scheiden zu lassen. Die vielfach miteinander verbundenen Familienclans setzen auf für alle Seiten vorteilhafte Beziehungen und hindern die Frauen an der Scheidung. »Flucht« ist der einzige Ausweg. Da in den Dörfern viele Frauen in unglücklichen Ehen leben, sind Selbstmorde weit verbreitet. Wer den Mut aufbringt abzuhauen, hat wenigstens die Chance auf ein anderes Leben. Xiuqing sagte, dass ihre Erfahrungen anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal Mut machen sollten. Während sie sprach, zeigte sie uns eine tiefe Narbe am Arm, Folge einer Wunde, die ihr Ehemann ihr mit einem scharfen Messer beigebracht hatte. Zwei junge Arbeiterinnen, die bei dem Interview dabei waren, fingen sofort an zu weinen. Auch ich war geschockt und konnte lange nichts mehr sagen. Ich sah, dass Xiuqing, die normalerweise offen und optimistisch ist, nach wie vor stark unter den Verletzungen litt. Sie wünschte sich, Shenzhen bald verlassen und nach Hause zurückkehren zu können, um ihren vier Jahre alten Sohn zu sehen. Ich hoffe, ihr Wunsch hat sich erfüllt.

Im Buch wird nur eine einzige Arbeiterin mit ihrem richtigen Namen genannt. Ihr Schicksal hat mich tief beeindruckt. Die anderen Arbeiterinnen wollten alle nicht, dass ihre Identität bekannt wird, und benutzten ein Pseudonym. Die Geschichte »Der Tod der kleinen Schwester« handelt von Li Chunmei, die mit nur neunzehn Jahren an Überarbeitung gestorben ist. Wir nannten ihren richtigen Namen, weil wir mit Chunmeis Familie hofften, dass sie nicht vergessen wird – dieses junge Leben, das von Kapital und Staat rücksichtslos ausgelöscht wurde.

Mitte November 2001, nach einem Hilferuf von Chunmeis Vater, kamen wir nach über zwei Stunden Busfahrt in Songgang an, einer Industriestadt in den Außenbezirken von Shenzhen. Im tristen Industriegebiet warteten wir lange darauf, dass der Fabrikchef erscheinen würde. Wir wussten nicht, wie wir dieser Familie helfen sollten. Der Chef hatte bereits die örtliche Arbeitsbehörde bestochen. Die Beamten schrieben in den Totenschein, dass sie an einer »akuten Krankheit« gestorben sei, und verweigerten eine Autopsie. Später kam der Fabrikchef in seiner fetten Limousine vorbei und würdigte Chunmeis Vater keines Blickes. In dem Moment hätte ich gerne einen Stein genommen und nach ihm geworfen. Was für ein verdammter, arroganter Kapitalist! Später gingen wir in das Wanderarbeiterviertel, in dem Chunmei gewohnt hatte, und sprachen mit ihren Kolleginnen, die aus derselben Gegend stammen wie sie. Sie trauten sich nicht, den Boss zu verklagen, und wollten sogar sofort kündigen und nach Hause zurückkehren. Die Kolleginnen hatten wirklich Angst vor seiner Macht. Es gab nichts, was wir mit ihnen zusammen hätten unternehmen können. Meine Mitstreiterinnen und ich spürten, wie ernst die Lage war. Wir begleiteten Chunmeis Vater zur Polizeidienststelle, wo er erneut eine Autopsie beantragen wollte. Die Totenhalle verlangte hundert Yuan pro Tag. Der Bauer hatte keinen Fen in der Tasche und sprach nur Sichuan-Dialekt. Nur seiner getöteten Tochter wegen rannte er in dieser fremden Stadt herum. Am Schluss blieb ihm nichts anderes übrig, als die vom Chef angebotenen 30 000 Yuan zu akzeptieren und nach Hause zurückzukehren.

Solange ich in Shenzhen war, nahm ich das noch relativ gelassen, aber als ich mit dem Zug nach Hongkong zurückkehrte, wurde ich so traurig, dass ich weinen musste. Die hilflosen Gesichter der dagongmei gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Chunmeis Geschichte zu dokumentieren war das Einzige, was wir tun konnten.

Experiment der Zusammenarbeit

Während wir die Interviews und Geschichten aufnahmen, traf ich auch mit Arbeiterinnen zusammen, die an Widerstandsaktionen und Streiks beteiligt waren. In den letzten drei Geschichten im Buch5 geht es um ihren Mut und ihre beachtliche Haltung während der Auseinandersetzungen. Ich kann mich bis heute gut daran erinnern.

Qiuyue erzählte mir im Interview, dass sie im Verlauf der Streikbewegung endlich verstanden habe, was im Politikunterricht in der Unteren Mittelschule über den »Mehrwert« und die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter im Kapitalismus gesagt worden war. Sie meinte:

»China ist nicht sozialistisch, sondern kapitalistisch.«

Sie brachte es auf den Punkt und machte mir klar, dass das Klassenbewusstsein der dagongmei zugenommen hatte.

In westlichen Gesellschaften verloren die Bauern nach der Industriellen Revolution im Zuge der Einhegungen ihr Land. Sie waren gezwungen, in die Städte umzusiedeln und für Lohn zu arbeiten. So formierte sich nach und nach eine Arbeiterklasse. In diesem besonderen historischen und politischen Kontext produzierten die ständigen Bewegungen der Arbeiterinnen und Arbeiter an den Arbeitsorten und in den Communities ein Klassenbewusstsein und besondere Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und anderen Klassen. Das China des 20. Jahrhunderts war dagegen in den globalisierten Kapitalismus eingebunden. Die Bauernarbeiterinnen und -arbeiter (mingong) zogen zum Arbeiten in die Städte nach dem Motto »Das Land verlassen, ohne den Boden aufzugeben«.6 Ihre Felder und Äcker sichern für den Notfall ihre Subsistenz. Wenn sie in der Ferne auf irgendwelche Schwierigkeiten treffen, einen Arbeitsunfall haben oder sich eine Berufskrankheit zuziehen, bleibt ihnen ihre Heimat als Rückzugsmöglichkeit. Ob die mingong langfristig in der Stadt leben und sich niederlassen können, ob sie Migranten-Communities gründen oder kurzfristig weiterziehen müssen, spielt bei der Herausbildung eines Klassenbewusstseins der neuen Arbeiterinnen und Arbeiter eine wichtige Rolle.

Die jungen Frauen vom Land, die mit 16 oder 17 Jahren unbedarft und voller Hoffnungen nach Shenzhen kommen, arbeiten dort ein paar Jahre. Mit 23 oder 24 erreichen sie ein entscheidendes Lebensalter. Sie denken darüber nach, ob die Zeit gekommen ist, nach Hause zu fahren und zu heiraten. Aber sie haben schon erfahren, wie es ist, in der Stadt zu leben und zu arbeiten. Trotz der kapitalistischen Ausbeutung haben sie Teil an den Konsumversprechen, die die »Modernisierung« mit sich bringt (modische Kleidung, neue Freizeitaktivitäten).

Sie haben die relative Freiheit in der Stadt genossen, und versuchen, die traditionellen Schranken zu überwinden, die ihnen Familien und Freunde auf dem Land setzen. Wenn sie ins Heiratsalter kommen, kämpfen nicht wenige mit sich, ob sie gehen oder bleiben sollen. Ihre Verpflichtungen im Dorf ziehen sie zurück in die Heimat, aber die schleppende Entwicklung auf dem Land und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme drängen sie wieder in Richtung Stadt – auch wenn sie bereits geheiratet haben und Mutter geworden sind. Sie wandern zwischen Stadt und Land hin und her und kommen kaum zur Ruhe.

Bei den Interviews und Erzählungen der dagongmei ging es uns auch darum, ihnen Bewusstsein über Geschlecht und Klasse zu vermitteln. Wenn eine Arbeiterin von ihren Arbeitserfahrungen berichtete, hörten die anderen dagongmei nicht nur zu. Sie schalteten sich oft in die Diskussion ein, berichteten über ihre eigene ähnliche Lebenssituation und erörterten unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Sie erzählten von ihren Erfahrungen, damit die anderen daran teilhaben konnten. Für mich und die Arbeiterinnen war das tatsächlich ein gemeinsamer
Lernprozess.

Einige dagongmei, die an den gemeinsamen Aktivitäten und den Widerstandsaktionen bei der Arbeit teilnahmen und sich dabei eine neues Bewusstsein über Klasse und Geschlecht aneigneten, hatten – inmitten all der Unklarheit – vermehrt den Wunsch, andere Lebensperspektiven zu verfolgen. Nach Beendigung des Interviewprojektes beschloss ich, weiter in Shenzhen zu bleiben und mit den dagongmei zu arbeiten. Im folgenden Jahr unterstützte ich einige dagongmei beim Aufbau einer »Arbeiterinnen-Kooperative«. Ich hoffte, meine Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit Arbeiterinnen in Hongkong einbringen zu können, und wollte mit diesen jungen dagongmei versuchen, einen gemeinsamen und unabhängigen Weg zu finden.7

Die Arbeiterinnen-Kooperative begann zunächst in verschiedenen Fabriken und Wohnheimen ein Verkaufsnetz für alltägliche Gebrauchsgüter wie Monatsbinden, Telefonkarten und Arzneitinkturen aufzubauen. Später etablierte sie sich in einem der Industrie- und Wohnheimgebiete und machte einen Imbiss auf. Nach zwei Jahren gab es vieles, was die Leute bewegte und ihnen wichtig war – die gemeinsame, unabhängige Arbeit, der kollektive Wille, andere dagongmei materiell zu unterstützen und sich mit ihnen zu organisieren, die lebhaften Diskussionen über ein Leben jenseits der traditionellen Arbeit und Ehe. Aber ich erinnere mich auch an Dinge, die allen weh taten. Die unterschiedlichen Ansichten und widersprüchlichen Interessen führten zu endlosen, offenen und verdeckten Streitereien, und die schwere Last des wirtschaftlichen Überlebens und der Arbeitsstress nahm allen die Luft zum Atmen. Dazu kamen noch die Zweifel der Familien und Freunde. Es herrschte große Besorgnis, weil Sinn und Zweck der Kooperative durch die harte Realität ständig in Frage gestellt wurde.

»Heirat« wurde zum heimlichen Gegenspieler der Kooperative, da sich mehrere Mitglieder aufgrund der Probleme nach Hause davonmachten und heirateten. Wenn ich heute darüber nachdenke, merke ich, dass ich als Aktivistin damals die komplizierte Beziehung der Arbeiterinnen zur Frage von Heirat und Ehe nicht verstand. Deswegen war ich auch nicht in der Lage, den Arbeiterinnen, die den Weg der Kooperative eingeschlagen hatten, beizustehen und ihnen zu helfen, das Problem zu erkennen und zu lösen. Zwischen der Aufrechterhaltung des Organisationsablaufs und der Rückkehr zum Heiraten entstand eine Spannung, die wir nicht bedachten und diskutierten. Einige Mitglieder der Kooperative zogen nach diversen Auseinandersetzungen Bilanz und stellten fest, dass sie und andere Schwestern sich für unterschiedliche Wege entschieden hatten.

Die dagongmei Meihua machte bei der Kooperative mit. Sie hielt die solidarische Basisarbeit für besonders wichtig und wollte Frauen aus der Unterschicht organisieren. Nach dem Ende der Arbeiterinnen-Kooperative half sie mir, eine weitere Kooperative zu organisieren, diesmal für Leute, die Arbeitsunfälle gehabt hatten. Wir mussten uns bei der Umsetzung mit vielen Problemen herumschlagen. Einiges ging schief und wir sammelten wichtige Erfahrungen. Nachdem wir beide später aus einer Reihe von Gründen das Arbeiterinnen-Netzwerk verlassen hatten, ging ich wieder nach Hongkong, und Meihua kehrte ins Dorf zurück – aber nicht um zu heiraten. Sie wollte herauszufinden, wie die Lage dort ist und welche Lösungen es für die Probleme der Bauern gibt. Deswegen begann sie die Frauen im Dorf zu organisieren. Heute ist sie 28 Jahre alt und muss bei der Basisorganisierung seit Jahren eine Hürde nach der anderen nehmen. Die Kraft und der Mut, mit der sie sich in die Auseinandersetzungen stürzt, mit all ihren Höhen und Tiefen, hat mich tief beeindruckt. Sie hat mit den Frauen auf dem Land erlebt, dass das Verhältnis zwischen Heirat und Familie auf der einen Seite und der Selbstentfaltung der Frauen auf der anderen Seite äußerst komplex und widersprüchlich ist. Heirat und Ehe können zwar die Selbstentfaltung der Frauen blockieren, aber die Übernahme von Verantwortung in der Familie hat auch dazu geführt, dass Frauen nach der Heirat an Standfestigkeit und Kraft gewonnen haben. Es ist wichtig, diese Widersprüchlichkeit im Auge zu behalten. Jahrelang stand Meihua unter dem Druck der Familie, die wollte, dass sie heiratet, aber sie hat sich in dieser Frage Raum verschafft und eine gewisse Unabhängigkeit erkämpft. Es hat mich stark beeindruckt zu sehen, wie sie sich über die Jahre entwickelt hat.

Die Jahre des Zusammenlebens mit den dagongmei halfen mir, das Schicksal der chinesischen Arbeiterinnen und Bauern besser zu verstehen. China gab nach und nach die sozialistischen Ideale auf. Der Unterschied zwischen arm und reich wächst täglich. Die Arbeiterinnen und Arbeiter stehen wie die Bauern am unteren Rand der Gesellschaft. Sie verdienen wenig, zahlen aber den höchsten Preis und werden ungerecht behandelt. Kann diese Entwicklung umgekehrt werden? Über die direkt betroffenen Massen von Arbeitern und Bauern hinaus betrifft das die gesamte chinesische Gesellschaft und ihre Erwartungen an sich selbst. Hongkong ist schon vor zehn Jahren Teil der Volksrepublik China geworden. Als ein Mensch aus Hongkong will ich mich an der Entwicklung der gesamten chinesischen Gesellschaft orientieren. Und ich verlange, dass sich die Situation verbessert.

Fortsetzung folgt …

Ich habe schließlich zurückgeschrieben:

»Liebe Achun! … Kürzlich ist mir dein Brief wieder in die Hände gefallen. Es sind einige Jahre vergangen, und ich habe erst jetzt den Mut und die Energie gefunden, um mit dir (und einigen anderen Schwestern) wieder Kontakt aufzunehmen. Was hast du erlebt, seit du nach Hause zurückgekehrt bist? Bist du danach wieder losgezogen? Hast du geheiratet? Hast du schon Kinder? Von was lebt deine Familie heute? Ich schicke dir meine Nachbetrachtungen, damit du weißt, worüber ich seit der Zeit, in der wir uns kennengelernt haben, bis heute nachdenke. Ich hoffe, dass ich wieder von dir höre.«

Li Wanwei, 6. April 2008


Fußnoten

1 Siehe S. 48-64. Im Original lautet die Überschrift: »Bin ich heimgekehrt, will ich wieder losziehen, bin ich unterwegs, will ich wieder zurück nach Hause.« (Anm. d. Ü.)

2 Der neue Name ist 女工关怀 nügong guanhuai, wörtlich etwa: Arbeiterinnen-Solidarität, aber die Frauen der Organisation haben als englische Übersetzung Chinese Working Women Network gewählt, im Deutschen gekürzt: Arbeiterinnen-Netzwerk (Anm. d. Ü.).

3 面朝黄土背向天 mianchao huangtu beixiang tian.

4 Diese Geschichte findet sich auf www.gongchao.org (Anm. d. Ü.)

5 Eine vierte Geschichte zu Kämpfen der dagongmei steht auf www.gongchao.org (Anm. d.Ü.)

6 离乡不离土 li xiang bu li tu.

7 In den neunziger Jahren unterstützte das Industrial Relations Institute die Gründung einer »Arbeiterinnen-Kooperative« in Hongkong. Die Mitglieder waren Arbeiterinnen aus der verarbeitenden Industrie und Hausfrauen aus dem Stadtteil. Ziel war es, im Viertel Sham Shui Po, in dem viele Familien mit niedrigen Einkommen wohnen, ein »kommunales Second-Hand-Geschäft« zu eröffnen und die Entwicklung einer »kommunalen Wirtschaft« zu unterstützen. Nachdem sie mit der Kooperative in Shenzhen Kontakt aufgenommen hatten, entstand zwischen den Arbeiterinnen eine über Altersunterschiede und Entfernungen hinweg funktionierende Freundschaft. Ihre gegenseitige Unterstützung kann man gar nicht genug würdigen.

 

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