von den FreundInnen von gongchao
[Aus: Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China. Berlin, 2010]
ArbeiterInnen des Getriebewerks des japanischen Konzerns Honda in Foshan in Südchina traten Ende Mai 2010 in den Streik und verlangten höhere Löhne und das Recht, ihre eigenen VertreterInnen wählen zu können. Gegen den Widerstand des transnationalen Unternehmens, der örtlichen Behörden und der offiziellen Gewerkschaft hielten sie zwei Wochen lang durch und stoppten die gesamte Fahrzeugproduktion Hondas in China. So setzten sie schließlich um mehr als 30 Prozent höhere Löhne durch. Angespornt durch die Entschlossenheit und den Erfolg der ArbeiterInnen in Foshan legten in den folgenden sechs Wochen Tausende die Arbeit nieder, vor allem in Fabriken der Automobilindustrie.
Eine massive Streikwelle im Herzen der “Fabrik der Welt”, in dem Land, das mit seiner staatlich gelenkten Industrialisierung und seinem riesigen Arbeitskräftereservoir wie kein anderes die Globalisierung der kapitalistischen Produktionsketten ermöglicht hatte, und in der Schlüsselindustrie, die weiterhin im Zentrum der kapitalistischen Produktionsmaschine steht – kein Wunder, dass es in China und in der ganzen Welt zu lebhaften Diskussionen kam. Als sich die Streiks in anderen Sektoren, wie den Weltmarktfabriken der Elektronikindustrie, fortsetzten, griffen sich viele BeobachterInnen an den Kopf: War das etwa der Anfang vom Ende des chinesischen Billiglohnmodells? Werden jetzt alle chinesischen Waren auf den Auslandsmärkten teurer, und wie würden die ProletarierInnen in anderen Regionen der Welt auf höhere Preise reagieren? Wird der Kapitalismus in China “von unten” zersetzt, und schlägt das autoritär-sozialistische Parteiregime zurück? Die Stabilität in China und auf der Welt scheint gefährdet – oder: Endlich ist etwas in Bewegung geraten!
Wer sind diese ArbeiterInnen, die Forderungen stellen und wilde Streiks organisieren? Im Internet und in Zeitungen zirkulierende Bilder zeigen junge Frauen und Männer in Arbeitsuniformen, die sich in Fabrikhöfen versammeln, auf der Straße demonstrieren, Parolen skandieren und über die im Kampf notwendige Arbeitersolidarität sprechen – sowie vom Elend der Fabrikarbeit. Warum rebellieren sie (erst) jetzt? Vor dreißig Jahren begannen die Reformen der Kommunistischen Partei Chinas, die das Land von einer “sozialistischen Planwirtschaft” in eine “sozialistische Marktwirtschaft” verwandelten, und zwanzig Jahre schon dauert der atemberaubende Industrialisierungsprozess, der Millionen WanderarbeiterInnen in die Fabriken, auf die Baustellen, in die Geschäfte, privaten Haushalte und Bordelle gezogen hat, wo sie als billige Arbeitskräfte schuften. Die erste Generation der ländlichen WanderarbeiterInnen, die in den 1980er und 1990er Jahren in die Städte zog, um Arbeit zu finden, fand noch wenige offensive Antworten auf ihr elendes Schicksal und bediente sich weitgehend individueller Widerstandsformen. Sie wollte vor allem Geld verdienen, um die Armut ihrer Familien auf dem Land zu lindern. Eine Politik sozialer Apartheid, die sich der Meldegesetze (hukou) bedient, teilt die chinesische Bevölkerung in Stadt- und in LandbewohnerInnen und enthält denen vom Land die besseren Sozialleistungen und Rechte in der Stadt vor. Die WanderarbeiterInnen dürfen sich nicht in der Stadt niederlassen und behalten dort einen prekären, vorübergehenden Status. Nach harten Jahren in der Stadt, ausgelaugt und oft krank von der Arbeit, sollen sie wieder in die Dörfer zurückkehren und durch neue ländliche Arbeitskräfte ersetzt werden.
Die zweite Generation, die in den 2000er Jahren erwachsen wurde und mit der Lohnarbeit begann, lässt sich das immer weniger gefallen. Sie findet sich in der urbanen Umgebung und den Fabriken besser zurecht und verlangt, dauerhaft in der Stadt bleiben und am produzierten Reichtum teilhaben zu können. Was sich im Honda-Getriebewerk in Foshan und in der Streikwelle ab Mai 2010 zeigte, ist der vorläufige Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung. Schon seit 2003 nehmen die offenen und kollektiven sozialen Kämpfe der WanderarbeiterInnen zu; Streiks und Arbeiterunruhen sind heute in China weiter verbreitet, als viele erwarten. Die zweite Generation der WanderarbeiterInnen ist im Aufbruch, und noch ist nicht abzusehen, wohin ihr Weg sie führen wird.
Vor drei Jahren haben einige von uns eine Sammlung von Texten zu den sozialen Konflikten in China veröffentlicht. “Unruhen in China”, als Beilage der Zeitschrift Wildcat erschienen, schildert Hintergründe und Zusammenhänge der Kämpfe der städtischen ArbeiterInnen, der Bauern und Bäuerinnen sowie der WanderarbeiterInnen in China. Es ist eine erste Annäherung an die sozialen Umwälzungen als Folge der massiven Industrialisierung und des Umbaus der chinesischen Gesellschaft. Vor zwei Jahren haben wir dann ein erstes Buch über die WanderarbeiterInnen herausgebracht: “dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen” von Pun Ngai und Li Wanwei enthält Geschichten von Frauen, die aus den Dörfern des chinesischen Hinterlandes in die Industriezonen von Shenzhen und Dongguan zogen, um an den Fließbändern und Werkbänken zu arbeiten. Die dagongmei (“arbeitende Schwestern”) beschreiben ihre Probleme in den patriarchalen Familien im Dorf, ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Stadt, den Arbeitsstress, die gefährliche und giftige Arbeitsumgebung in den Fabriken und den Widerstand, den sie gegen die Ausbeutung und Unterdrückung organisieren. Uns war “der subjektive Blick der ArbeiterInnen” wichtig, “der ihre Welt erst greifbar macht und zeigt, welche Chancen auf Veränderungen sie selbst sehen” (aus dem Vorwort).1
Danach wollten wir die Perspektive in zwei Richtungen öffnen. Zum einen interessierte uns, welche proletarischen Subjekte außer den dagongmei der Weltmarktfabriken noch entstanden sind. Wie sieht zum Beispiel der Alltag der Millionen migrantischen BauarbeiterInnen, Hausangestellten und SexarbeiterInnen aus, und wie wehren sie sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung? Zum anderen wollten wir uns die Entwicklung der sozialen Kämpfe in China genauer ansehen. Welche Auseinandersetzungen fanden in den Reformjahren seit 1978 statt? Welche Tendenzen lassen sich beobachten? Sind wir ZeugInnen des Zusammensetzungsprozesses einer neuen Arbeiterklasse? In welchem Maße wird diese nicht nur China sondern die Welt verändern? Von diesen Fragen ausgehend haben wir Texte von vorwiegend chinesischen AutorInnen gesucht, die wir hier im nunmehr zweiten Buch zu den WanderarbeiterInnen auf Deutsch veröffentlichen.
Mit “Aufbruch der zweiten Generation” wollen wir deutschsprachigen LeserInnen das Schicksal und die Kämpfe verschiedener Teile des neuen Proletariats in China näher bringen. Angesichts der zunehmenden Verflechtung der Weltwirtschaft und insbesondere des intensiven Waren- und Kapitalaustauschs zwischen der EU und China haben die Klassenauseinandersetzungen in China auch für die Bedingungen und Perspektiven von ArbeiterInnen in Europa eine große Bedeutung. “Aufbruch der zweiten Generation” bietet Material, mit dem wir uns auf einen Kampfzyklus der chinesischen
WanderarbeiterInnen vorbereiten und mögliche Formen des solidarischen Bezugs diskutieren wollen.
Neue Klassensubjekte
Das Buch ist in zwei Teile mit insgesamt neun Kapiteln aufgeteilt. Im ersten Teil haben wir sechs Beiträge chinesischer SozialwissenschaftlerInnen zusammengetragen, die sich jeweils die Lage und die Kämpfe einer bestimmten migrantischen Arbeiterfigur anschauen.
Pun Ngai und Lu Huilin haben in den letzten Jahren die Lage der BauarbeiterInnen in und um Beijing erforscht. Sie sind mit ihrem Team auf die Baustellen gegangen, haben die ArbeiterInnen befragt und sind mit ihnen in ihre Heimatdörfer auf dem Land gefahren. Ihr Beitrag gibt ein Bild davon, wie die auf Verwandtschafts- und Herkunftsbeziehungen beruhenden Subunternehmerketten in der Bauindustrie die sozialen Strukturen in den Dörfern zerstören und eine gnadenlose Ausbeutung der ArbeiterInnen ermöglichen, die oft nicht mal ihren (vollen) Lohn bekommen. Auch der individuelle und kollektive Widerstand konnte die Situation auf den Baustellen nicht entscheidend verbessern, aber er gibt einem Klassenempfinden Ausdruck, das laut Pun und Lu die Haltung der ArbeiterInnen gegenüber dem staatlichen und privaten Baukapital charakterisiert: Hass.
Zhang Lu hat sich intensiv mit der Situation der chinesischen AutomobilarbeiterInnen beschäftigt und in mehreren Fabriken in ganz China Interviews geführt. Sie beschreibt die tayloristische Arbeitsorganisation und schlanke Produktion, die langen Arbeitszeiten und die Eintönigkeit an den Fließbändern. Die Unternehmen spalten die Belegschaften mithilfe einer dualen Beschäftigungspolitik in eine abgesicherte Kernbelegschaft, die mit dem Management kooperiert, und prekär beschäftigte LeiharbeiterInnen oder PraktikantInnen. Relativ hohe Löhne, die Relikte paternalistisch-sozialistischer Betriebsleitung und die Kollaboration der parteinahen Gewerkschaften führten dazu, dass es im letzten Jahrzehnt wenig offene Proteste gab. Zhang Lu zeigt aber, dass auch in der chinesischen Automobilindustrie die integrierten Produktionssysteme und Just-in-Time-Zulieferketten die Störanfälligkeit der Industrie erhöht haben, was bereits vereinzelte Arbeitsniederlegungen in der Mitte des Jahrzehnts deutlich machten. Sie konnte noch nicht wissen, dass die ArbeiterInnen von Honda und anderen Automobilunternehmen diese Störanfälligkeit – und ihre gewachsene Verhandlungsmacht – im Frühsommer 2010 nutzen und eine Streikwelle lostreten würden.
Xue Hong hat sich mit den ElektronikarbeiterInnen in Dongguan, Knotenpunkt der weltweiten Elektronikindustrie, auseinandergesetzt. Auf der Grundlage der Ergebnisse ihrer Interviews mit WanderarbeiterInnen und Managern und ihrer Beobachtungen in den Betrieben, Leiharbeitsfirmen und Wohnheimen analysiert sie die Lage in drei Fabriken, die zur selben Zulieferkette gehören, aber im Produktionsablauf unterschiedliche Aufgaben übernehmen: als Fertigungszentrum transnationaler Konzerne, als Zulieferbetrieb mittlerer Größe, und als einfache Produktionsklitsche. Alle drei setzen auf eine Form des despotischen Kontrollregimes am und neben dem Arbeitsplatz, und sie benutzen die Geschlechtertrennung und die über einen gemeinsamen Heimatort hergestellten sozialen Netzwerke, um die ArbeiterInnen zu spalten und die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Die große Arbeitsbelastung, das hohe Arbeitstempo, die strikt durchgesetzte Disziplin und die Nichteinhaltung der gesetzlichen Mindestlöhne und Arbeitsbestimmungen sind einige der Gründe für die hohe Fluktuation und eine wiederkehrende Arbeitskräfteknappheit in der Region. Dieser Beitrag zur Elektronikindustrie in Dongguan hilft, die Geschehnisse beim taiwanesischen Auftragshersteller Foxconn im benachbarten Shenzhen im Frühjahr 2010 zu verstehen. Nachdem sich mehr als zehn Foxconn-ArbeiterInnen vom Dach der Fabrikgebäude in den Tod gestürzt hatten, setzte in China und weltweit eine Debatte über die Arbeitsbedingungen und das militärische Fabrikregime bei Foxconn ein.2
Zhang Xia hat die Situation der bangbang, LastenträgerInnen in Chongqing im Westen Chinas untersucht. Mit Bambusstöcken und daran befestigten Schnüren transportieren sie alle möglichen Güter auf Märkten, in Einkaufszonen und auf der Straße – als Selbständige, alleine oder in Gruppen. Im Rahmen ihrer ethnografischen Beobachtungen der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der Verhaltensweisen der LastenträgerInnen geht es Zhang Xia vor allem um die Frage, wie herrschaftliche Diskurse von Freiheit und Eigenverantwortlichkeit das Leben der bangbang bestimmen. Für die Berufswahl dieser ländlichen WanderarbeiterInnen ist der neoliberale staatliche Diskurs über ziyou (Freiheit) entscheidend, der sie zu selbstregulierten, unternehmerischen – und ausgebeuteten – Subjekten macht. Die bangbang greifen den Diskurs auf und schätzen ihre größere Freiheit im Vergleich zur Kontrolle und Disziplinierung in der Fabrik sowie die Möglichkeit, ihr Leben selbst organisieren und zum Beispiel auch die saisonale Landarbeit im Heimatdorf erledigen zu können. Aber ihr Verhältnis zu dieser Freiheit bleibt widersprüchlich, weil sie ein hohes Maß an Unsicherheit mit sich bringt. Ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen sind die bangbang finanziell von ihren Kunden abhängig, werden von diesen übervorteilt, kontrolliert und zuweilen gar physisch angegriffen. Ihre Autonomie oder Freiheit ist Grundlage ihrer Ausbeutung und Beherrschung, und die tatsächlichen Ausbeutungsverhältnisse sind durch den ziyou-Diskurs verschleiert.
Zheng Tiantian hat in Dalian, Provinz Liaoning in Nordchina, in Karaoke-Bars gearbeitet, um die Situation der Sexarbeiterinnen zu verstehen. Ein großer Teil der ländlichen Wanderarbeiterinnen Dalians ist in der Sexindustrie beschäftigt – oft nach schlechten Erfahrungen mit niedrigen Löhnen in anderen Sektoren, nach finanziellen Notlagen oder aufgrund schrecklicher Erfahrungen mit Vergewaltigungen oder dem Alleingelassenwerden in der fremden Stadt. Viele arbeiten in Karaoke-Bars, die im letzten Jahrzehnt zu einem wichtigen Ort nicht nur männlichen Zeitvertreibs, sondern auch von Ritualen der Politik- und Geschäftswelt geworden sind. Der Staat kriminalisiert die “unsozialistische” Sexarbeit und führt regelmäßige Kampagnen und Razzien durch, gleichzeitig verdienen staatliche Funktionäre über Bestechungsgelder und Geldstrafen kräftig mit. Die Kriminalisierung wird von den Barbesitzern genutzt, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, und führt zu einer weiteren Brutalisierung im Alltag der Hostessen. Diese versuchen, die Ausbeutung zu unterlaufen, indem sie sich außerhalb der Bars, und ohne Wissen der Barbesitzer, mit Kunden treffen und Geld verdienen. Für sie bietet die vergleichsweise gut bezahlte Hostessarbeit die Möglichkeit, den Status armer Landbewohnerinnen (wenigstens für eine Zeit) hinter sich zu lassen, am modernen Stadtleben und Konsum teilzuhaben und ihre Familien finanziell zu unterstützen.
Yan Hairong konzentriert sich in ihrem Beitrag auf migrantische Hausangestellte. In der Mao-Ära vor 1978 gab es nur relativ wenige Hausangestellte, und diese arbeiteten in der Regel für hohe Parteikader oder andere Führungskräfte in Großstädten. Mit den Marktreformen Anfang der 1980er Jahre entstand dann rasch ein großer Sektor für Haushaltsarbeit mit vorwiegend ländlichen WanderarbeiterInnen, die für städtische Familien arbeiten. Sie übernehmen die Betreuung kleiner Kinder, versorgen alte oder kranke Menschen und machen allgemeine Hausarbeit. Yan vergleicht die Arbeitsbedingungen, insbesondere das Ausmaß der Kontrolle der Arbeiterinnen über den Arbeitsprozess, in den beiden Epochen vor und nach Beginn der Reformen. Bei gleichen oder ähnlichen Arbeitsaufgaben verfügten die vorwiegend älteren ländlichen Hausangestellten der Mao-Ära über eine relativ große Autonomie im Arbeitsprozess, während sich die jungen ländlichen Hausangestellten der ReformÄra einer strengen Überwachung und Disziplinierung durch die Arbeitgeberfamilien unterworfen sehen. Yan führt das zum einen auf die stärkere Kommodifizierung der Hausarbeit zurück – in der Mao-Ära lag die Erziehung der Kinder weitgehend in der Hand von Verwandten und nicht LohnarbeiterInnen –, vor allem aber auf die Abwertung von Ruralität. In der Mao-Ära war diese positiv belegt, aber mit den Reformen und dem am kapitalistischen Westen orientierten Modernitäts- und Fortschrittsdiskurs traten die Stadt und die industriellen Entwicklungszentren in den Mittelpunkt. Alles Ländliche wurde nun als rückständig betrachtet. Ländliche Arbeitskräfte galten fortan als ungebildet und unmodern und sollten ihre niedrige suzhi (Qualität) erhöhen. Im Arbeitsprozess werden sie folglich streng kontrolliert und zugerichtet, um den Anforderungen moderner Haushaltsführung gewachsen zu sein.
Unruhen und Klassenneuzusammensetzung
Im zweiten Teil des Buches haben wir drei Beiträge zusammengestellt, die sich der Lage in China aus der Perspektive der Arbeiterunruhen und der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse nähern. Ching Kwan Lee analysiert in ihrem Beitrag die Entwicklung des Arbeiteraufruhrs in China, sowohl den der städtischen Arbeiterschaft als auch den der WanderarbeiterInnen. In der maoistischen Periode von 1949 bis 1978 wurden die städtischen ArbeiterInnen festen Arbeitseinheiten zugeordnet und von der Betriebs- und Parteihierarchie kontrolliert, waren aber keineswegs bloß gefügige Objekte. Die politischen Fraktionskämpfe und die im sozialistisch-bürokratischen System wurzelnde wirtschaftliche Ungleichheit ließ Teile der Arbeiterschaft immer wieder Forderungen nach einer Verbesserung ihrer Lage stellen, materielle wir politische. Höhepunkte waren die Streikwelle 1956–57, die Arbeiterproteste am Anfang der Kulturrevolution 1966–67 und die Beteiligung der ArbeiterInnen an der “Bewegung vom 5. April 1976”. Die Reformen ab 1978 führten zur Ausbreitung der Marktwirtschaft und zur Integration Chinas in den Weltmarkt. Beides hatte einschneidende Folgen sowohl für die städtischen ArbeiterInnen als auch für die ländlichen WanderarbeiterInnen, die nun in die industriellen Zentren zogen. Das unternehmensbasierte Sozialleistungssystem der Staatsbeschäftigten wurde nach und nach abgeschafft, und das paternalistische System der Arbeitskontrolle durch einen neuen Despotismus ersetzt. Die WanderarbeiterInnen konnten ihre materiellen Bedingungen zwar im Vergleich zum Leben auf den Dörfern etwas verbessern, wurden in den Jobs in der Stadt aber gnadenlos ausgebeutet. Während der dreißig Reformjahre gab es ständig Kämpfe und Streiks von unterschiedlicher Intensität und Dauer. Als Höhepunkte der Kämpfe der städtischen ArbeiterInnen macht Lee die Mobilisierung im Rahmen der Tian’anmen-Bewegung 1989 und die Proteste gegen die Umstrukturierung und Entlassungen bei staatlichen Unternehmen um das Jahr 2002 aus. Schon in den 1980er und 1990er Jahren kam es zudem zu ersten Streiks der WanderarbeiterInnen. Die Unterdrückung überbetrieblicher Organisierungsversuche und größerer Bewegungen sorgte dafür, dass die meisten Arbeiterproteste in einem zellularen und lokalen Rahmen blieben. Den materiellen Forderungen der Arbeiteraktionen wurde dagegen oft entgegengekommen. Proteste für Verbesserungen sah die Regierung auch als “Sicherheitsventile”, die Druck abließen und die herrschende Kommunistische Partei aus der Schusslinie nahmen. Sie schuf Schlichtungsinstanzen, die den ArbeiterInnen legale Formen der Konfliktlösung anbieten. Bisher hat diese Strategie dazu beigetragen, eine Eskalation der Konflikte zu verhindern, selbst als sich mit dem globalen wirtschaftlichen Abschwung 2008 die Situation in den industriellen Zentren zuspitzte und es zu wütenden Streiks der WanderarbeiterInnen kam. Lee meint, dass das “Gespenst der Arbeiterunruhen” den Herrschenden zwar weiterhin Angst einflößt, diese aber bereits ein
ganzes Jahrzehnt zunehmender Arbeiterkämpfe – und ebenso die Stabilität gefährdender Revolten auf dem Land – hinter sich haben.
Im Beitrag der FreundInnen von gongchao zur Streikwelle von Mai bis Juli 2010 in China beschreiben wir die aktuelle Lage, nach dem Kriseneinbruch 2008/2009 und dem anschließenden, von einem staatlichen Förderprogramm angeschobenen Aufschwung. Der Streik im Getriebewerk des japanischen Automobilunternehmens Honda in Foshan (Guangdong) war Ausgangspunkt einer Welle von Protesten der WanderarbeiterInnen in vielen anderen Fabriken in den drei wichtigsten Industriezonen Perlfluss-Delta, Yangtse-Delta und Beijing/Tianjin, aber auch darüber hinaus. Niedrige Löhne und das despotische Ausbeutungsregime waren Auslöser der Streiks, die, was die Lohnforderungen angeht, weitgehend erfolgreich waren und die gewachsene Verhandlungsmacht der ArbeiterInnen, vor allem in der Automobilindustrie, zeigen. Die neue Generation von WanderarbeiterInnen stellt Forderungen und lässt sich weniger gefallen, als ihre VorgängerInnen vor zehn oder zwanzig Jahren. Ihre in den Streiks offenbarte Selbsttätigkeit und ihre Forderungen nach Kontrolle über betriebliche Vertretungsstrukturen setzen das Regime, das wieder eine Destabilisierung seiner Herrschaft fürchtet, unter Druck. Der Boom und die Arbeitskräfteknappheit in einigen Regionen spielen den ArbeiterInnen momentan in die Hände. Die Streiks haben eine Debatte über das Ende des Billiglohnmodells angestoßen, und die Regierung diskutiert, wie sie die Konflikte und Kampfbereitschaft der ArbeiterInnen wieder in den Griff bekommt. Die trägen Staatsgewerkschaften, die sich bisher offen auf die Seite der Betriebsleitungen stellen, sollen reformiert und als vermittelnde Kraft im Klassenkampf funktionsfähig gemacht werden. Der Erfolg dieser Strategie ist offen und hängt vor allem davon ab, ob die Streiks weiter eskalieren und Staat und Kapital in China zu Zugeständnissen zwingen können, oder ob sie sich integrieren lassen
und abebben.
Pun Ngai und Chris King-Chi Chan diskutieren in ihrem Text die Subsumtion desKlassendiskurses in China. China war 1949 ein Agrarland mit wenig Industrie und die Befreiung wurde von einer Bauernarmee erfochten. Deswegen musste der Maoismus erst eine Arbeiterklasse schaffen, um die Macht der Kommunistischen Partei als Avantgarde dieser Klasse legitimieren und festigen zu können. Dabei wurde chinesischen Arbeitern von oben ein symbolischer Klassenstatus zugewiesen, ohne dass es zu einer selbstständigen Klassenformierung gekommen wäre. Der Abstand zwischen Symbolismus und tatsächlicher Lage der Klassensubjekte war groß und erforderte regelmäßige Massenmobilisierungen, um diese Diskrepanz zu verschleiern. In der Reform-Ära wurde der maoistische Klassendiskurs verurteilt und entsorgt – in gewisser Weise auch ein Echo auf das Ableben der Klassenanalyse in der westlichen Linken Anfang der 1980er Jahre. In China machte er Platz für einen neoliberalen Diskurs gepaart mit einer Weber’schen Schichtenanalyse der Gesellschaft. Die “sozialen Probleme” und “Spannungen” werden thematisiert und gleichzeitig der Reformkurs eines Parteiregimes bestätigt, das diese “lösen” will. Mit der Zunahme der Streiks und Proteste der Staats- wie der WanderarbeiterInnen – den Formierungsprozessen einer neuen Arbeiterklasse – nahm dann das Interesse chinesischer Intellektueller an der Analyse sozialer Konflikte wieder zu. Pun und Chan weisen aber darauf hin, dass deren Untersuchungen im Beklagen
der sozialen Ungleichheit hängen bleiben und den Staat zur Lösung der Probleme auffordern. So tragen diese Intellektuellen zum Verbergen von Klassenpositionen und zum Erhalt sozialer Privilegien bei. Auch die wenigen Studien zur neuen Konfliktualität, die einen Begriff von Klasse verwenden, vermeiden eine Kritik an der Integration Chinas in den globalen Kapitalismus und führen die Analyse so in den hegemonialen Diskurs des Neoliberalismus zurück.
Derweil tut das Regime alles, um das Gespenst des Klassenkampfes zu vertreiben und jeden neuen Klassendiskurs abzuwürgen, indem es die “harmonische Gesellschaft” ausruft und den ArbeiterInnen gesetzlichen Schutz anbietet. In dieser Situation geht es laut Pun und Chan darum, an der Klassenerfahrung von unten anzusetzen, “der täglichen Mikropolitik des Wohnheim-Arbeitsregimes” und den Kämpfen der WanderarbeiterInnen. Diese machen eine Klassenanalyse notwendig – ohne Rückkehr zum verdrehten maoistischen Begriff des “Klassenkampfs” –, um die Neuordnung der Klassenstrukturen und -beziehungen im heutigen China und die Klassenerfahrungen der neuen Subjekte verstehen zu können.
Einordnung und Einflüsse
Die Beiträge in diesem Buch sind von einer neuen Generation chinesischer kritischer SozialwissenschaftlerInnen geschrieben, die in den 1990er Jahren angefangen hat, sich auf die neuen Arbeitersubjekte in China zu beziehen. Besonders die aus Hongkong stammenden Forscherinnen Ching Kwan Lee und Pun Ngai prägten die Diskussion über das Schicksal der neuen proletarischen und semi-proletarischen Subjekte. Ching Kwan Lee eröffnete die Reihe fundierter Untersuchungen mit ihrer Studie der unterschiedlichen Kontrollregime der Arbeit in zwei Fabriken in Hongkong und in Shenzhen (Lee 1998) und legte später einen Vergleich der Arbeiterproteste in den staatlichen Kombinaten des nördlichen rustbelts mit denen der ArbeiterInnen in den neuen Fabriken im Süden vor (Lee 2007). Pun Ngai konzentrierte sich auf die Situation und die Kämpfe der ländlichen Arbeitsmigrantinnen in den Weltmarktfabriken Südchinas (Pun 2005; Pun/Li 2008). An diesen Studien konnten Forscherinnen wie Xue Hong und Zhang Lu bei ihren Untersuchungen der Elektronik- bzw. Automobilindustrie ansetzen (Xue 2009; Zhang Lu 2010), und andere wie die hier vertretenen Yan Hairong, Zheng Tiantian und Zhang Xia erweiterten das Blickfeld auf ArbeiterInnen außerhalb der Fabrik, in diesen Fällen auf Hausangestellte, Sexarbeiterinnen und LastenträgerInnen (Yan Hairong 2008; Zheng Tiantian 2009; Zhang Xia 2010).
Die in diesem Buch versammelten chinesischen WissenschaftlerInnen greifen in ihren Untersuchungen auf ethnografische Methoden zurück, insbesondere Interviews und teilnehmende Beobachtung, um konkrete Lebenssituationen verstehen zu können. Sie nehmen eine Perspektive “von unten” ein und wollen die Situation vom Standpunkt der Beobachteten aus verstehen. Dahinter steht die von E.P. Thompson geprägte Vorstellung, dass ein Verständnis des Arbeiterwiderstandes und der Klassenbildung die Auseinandersetzung mit den konkreten Alltagserfahrungen der ArbeiterInnen voraussetzt (Thompson 1963). Die AutorInnen beziehen sich in ihren Untersuchungen auf eine Reihe analytischer Begriffe, wie etwa Michael Burawoys Konzept despotischer und hegemonialer Fabrikregime zur Erklärung der Techniken der Kontrolle, Dominanz und Ausbeutung im Arbeitsprozess und darüber hinaus (Burawoy 1985), und die Ansätze kritischer Genderforschung mit ihrem Fokus auf die Rolle der geschlechtlichen Arbeitsteilung für die Herausbildung und Aufrechterhaltung des Kontrollregimes sowie auf die Bedeutung von Gender für den Widerstand der ArbeiterInnen.
Das Ergebnis ist ein Lichtfächer, der verschiedene Aspekte, Brüche und Potentiale der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse beleuchtet: die Subunternehmerpyramide und der Lohnraub auf den Baustellen, die Spaltung der Fabrikbelegschaften durch das duale Arbeitssystem von LeiharbeiterInnen und Festangestellten, die vergeschlechtlichten Kontroll- und Unterdrückungstechniken, mit denen weibliche Hausangestellte und Sexarbeiterinnen in Schach gehalten und ausgebeutet werden, bis zu den Herrschaftsdiskursen über suzhi (Qualität) und ziyou (Freiheit), die an den Bedürfnissen nach Befreiung und sozialem Aufstieg der ProletarierInnen ansetzen und daraus kapitalistische Waffen der ideologischen Kontrolle und Zurichtung schmieden. Die Stärke dieser Analysen liegt in der Erzählung konkreter Klassenerfahrungen und der dahinter stehenden Ausbeutungsbedingungen. Stellenweise haben sie aber auch Schwächen, wie eine überbordende postmoderne Diskursanalyse, die anklingende Verharmlosung der maoistischen Klassenherrschaft und die Einordnung der Analyse in die reformistische Konfliktlösungs- und Rechtsstaatsdebatte – alles drei wiederkehrende Defizite der kritischen Sozialwissenschaft in China. Diese Defizite und Grenzen der hier vorgestellten kritischen Wissenschaft sind auch ein Spiegel der Schwäche und Perspektivlosigkeit der politischen “Linken” in China und stehen im Widerspruch zu den dort aufflammenden sozialen Kämpfen und Klassenneuzusammensetzungsprozessen. Wenn die Welle von
Arbeiterunruhen weitergeht und eine politische Debatte über die Perspektiven einer Klassenbewegung befeuert, die gegen die kapitalistische Ausbeutung und den Parteistaat agiert, könnte das zum einen Raum schaffen für eine Klassenlinke, die sich abseits der sozialistisch-nationalistischen und staatsfixierten Positionen neo-maoistischer Gruppen und des Sozialreformismus linker AkademikerInnen und Arbeits-NGOs formiert. Zum anderen könnte es die kritischen SozialforscherInnen anspornen, die Grenze des Beobachtens zu überschreiten, und zu “aufrührerischen Subjektivitäten” führen, “die bereit sind, der gegenwärtigen Praxis der Soziologie zu widerstehen” (Pun 2006).
FreundInnen von gongchao, August 2010
Literatur
Burawoy, Michael (1985): The Politics of Production. London.
Chan, Chris King-Chi (2008): The Challenge of Labour in China. Strikes and the Changing Labour Regime in Global Factories. Dissertation. Universität von Warwick.
Lee, Ching Kwan (2007): Against the Law. Labor Protests in China’s Rustbelt and Sunbelt. Berkeley.
Lee, Ching Kwan (1998): Gender and the South China Miracle: Two Worlds of Factory Women. Berkeley.
Pun Ngai (2006): “A Will to Public Sociology (Vortrag für das Symposium Public Sociology in China)”. Social Transformations in Chinese Societies: 67–71.
Pun Ngai (2005): Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace. Durham/London.
Pun Ngai/Li Wanwei (2008): dagongmei – Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen. Berlin (Informationen und Texte zum Buch: http://www.gongchao.org/de/dagongmei-buch)
Silver, Beverly J. (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin (Informationen und Texte zum Buch: http://www.wildcat-www.de/dossiers/forcesoflabor/fol_dossier.htm)
Thompson, Edward P. (1963): The Making of the English Working Class. London.
Wildcat (2007): “Unruhen in China”. Beilage der Zeitschrift Wildcat #80, Dezember 2007. (Online unter: http://www.gongchao.org/de/unruhen-heft)
Xue Hong (2009): Manufacturing Uncertainty: The Politics of Flexible Production in China’s High-Tech Electronics Industry in the Age of Globalization. Dissertation. Chinesische Universität von Hongkong.
Yan Hairong (2008): New Masters, New Servants: Migration, Development, and Women Workers in China. Durham.
Zhang Lu (2010): From Detroit to Shanghai? Globalization, Market Reform, and Dynamics of Labor Unrest in the Chinese Automobile Industry, 1980 to the Present. Dissertation. Johns Hopkins Universität, Baltimore.
Zhang Xia (2010): Carrying out Modernity: Migration, Work, and Masculinity in China. Dissertation. Universität von Pittsburgh.
Zheng Tiantian (2009): Red Lights: The Lives of Sex Workers in Postsocialist China. Minneapolis.
Fußnoten
1 Alle Texte aus “Unruhen in China” sowie ergänzendes Material zu Pun Ngai/Li Wanwei: “dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen” und zum hier vorliegenden Buch “Aufbruch der zweiten Generation” finden sich im Internet auf der Seite http://www.gongchao.org.
2 Mehr Informationen zur Auseinandersetzung um die Ereignisse bei Foxconn im Beitrag zu den Streiks 2010 in diesem Buch.