Linke Sackgasse versus destruktive Kritik – Chinas Aufstandsbekämpfungsstrategien und mögliche Antworten

von Freund_innen von gongchao.org (Mai 2012)

English | Español | EλληνικάFrançais | Português | Slovenčina


Im Frühjahr 2010 traten die Arbeiter_innen der Honda-Fabrik von Foshan, Provinz Guangdong, in den Streik. Sie überwanden ihre Spaltung in Festangestellte und Arbeitspraktikant_innen und brachten Hondas gesamte Produktion in China zum Stillstand. Das transnationale Unternehmen sah sich gezwungen, die Arbeiterlöhne um dreißig Prozent zu erhöhen. Diese Auseinandersetzung löste eine Streikwelle aus, die über mehrere Sektoren und Regionen rollte und etwa zwei Monate anhielt. Im Herbst 2011 übernahmen die Einwohner_innen von Wukan, Provinz Guangdong, die Kontrolle über ihre ländliche Kleinstadt und warfen die lokalen Partei- und Regierungsvertreter hinaus. Korrupte Beamte hatten ohne angemessene Entschädigung der Bauern Land verkauft. Nachdem die Einwohner_innen Polizeiangriffe abgewehrt und über Wochen auf dem zentralen Platz Versammlungen abgehalten hatten, sagte die Regierung eine Untersuchung der Landverkäufe und die Neuwahl der Lokalregierung zu.

Diese prominenten Beispiele stehen für den Erfolg und das Scheitern von Chinas Aufstandsbekämpfungsstrategien. Die Zahl sozialer Unruhen steigt seit Mitte der 1990er Jahre und schließt alle drei gefährlichen Klassen ein – Bauern, städtische und migrantische Arbeiter_innen. Landkonflikte, Streiks und Aufstände auf dem Land wie in den Städten können Vorboten einer Explosion der Kämpfe sein, welche die derzeitigen sozioökonomischen Machtstrukturen in die Luft sprengt. Die Aufstandsbekämpfungsstrategien waren aber bisher erfolgreich, sodass diese Explosion noch nicht stattgefunden hat – trotz der Spannungen und der Unzufriedenheit. Soziale Unruhen üben einen enormen Druck auf das Regime aus, aber sie haben dessen Zugriff auf die Macht nicht lösen können. Die neue herrschende Klasse aus alten Parteioffiziellen und ihren kapitalistischen Nachkommen1 und Verbündeten haben nicht nur den Aufstandsbekämpfungsapparat modernisiert und gestärkt, sie haben auch eine Reihe von Institutionen geschaffen, mit deren Hilfe sie soziale Auseinandersetzungen schlichten, befrieden und integrieren.

Zwar hat die Explosion nicht stattgefunden, aber das kann noch kommen. Weder die Repression noch die Integration – und auch nicht die gewisse Verbesserung der Lebensbedingungen – hat die Flamme der Revolte ausblasen können. Die Gründe lesen sich als Liste sozialer Gräuel: riesige Einkommensunterschiede, Vertreibungen, Niedriglöhne, lange Arbeitszeiten, ein Mangel an Arbeitssicherheit mit Millionen Toten und Verstümmelten, kein funktionierendes Sozialversicherungssystem, Massenentlassungen, Altersarmut, weit verbreitete Korruption und Unterschlagungen – jeweils Grund genug, den Kampf dagegen fortzusetzen. Daraus ergeben sich zwei Fragen, die Proletarier_innen, Bauern und alle indignad@s in China und darüber hinaus letztendlich zu beantworten haben: Da der Kapitalismus diese sozialen Gräuel reproduziert, wie können wir ihn loswerden, und was kommt danach?

Vorher schon kein Kommunismus, oder jetzt kein Kommunismus mehr?

1978 begann Chinas Kommunistische Partei ihren langen Marsch vom kapitalistischen Staatssozialismus zum sozialistischen Staatskapitalismus. Das alte sozialistische System hatte den modernistischen Glauben in die industrielle (tayloristische, fordistische) Entwicklung, eine Landreform und die medizinische und soziale Versorgung der Massen verbunden mit der Apartheid zwischen Stadt- und Landbewohner_innen, Nationalismus, Militarismus, Autoritarismus und Patriarchat. Die politische, wirtschaftliche und soziale Krise des Staatskapitalismus in den 1960er und 1970er Jahren zwang das Regime in trial-and-error Reformen. Es wusste nicht, wo der Weg enden würde. Der Prozess kann als die drei langen Jahrzehnte der Reform und Entwicklung bezeichnet werden.

Im ersten langen Jahrzehnt von 1978 bis 1992 begannen die KP und die staatlichen Strukturen mit dem transnationalen Kapital zu kooperieren, um die Bedingungen der Kapitalakkumulation und die Reproduktion der Arbeitskraft zu verändern. Ausländisches Kapital durfte ins Land strömen, und der chinesische Staat schaffte die Voraussetzungen für eine profitable Industrialisierung, indem er zum Beispiel die strengen Migrationsbeschränkungen lockerte und dadurch die Versorgung der neu geschaffenen Sonderwirtschaftszonen mit neuen Arbeitskräften sicherte. Die Eiserne Reisschale – ein Satz sozialstaatlicher Leistungen hauptsächlich für die Minderheit der städtischen Arbeiter_innen – bekam erste Sprünge. Darüber hinaus begann die KP, ihre bisherige Klassenkampfrhetorik abzulegen und durch reaktionäre Konzepte sozialer Schichtung zu ersetzen.2 Gleichzeitig bewahrte sie andere Elemente des maoistischen Sozialkitts wie chinesischen Nationalismus und Repression. Währenddessen führten die verstärkte Kommodifizierung der Arbeit, die wirtschaftlichen Krisen und der gestiegene Arbeitsdruck in vielen Teilen des Landes zu Massenbewegungen, die ihren Höhepunkt in der Tian’anmen-Bewegung 1989 fanden. Anders als oft angenommen war das nicht nur eine Studenten- und Demokratiebewegung, sondern ein Massenaufstand gegen die soziale Situation und das Regime. Die Zerschlagung der Bewegung mit Zehntausenden Opfern, Verhaftungen und Todesurteilen schwächte die Opposition und öffnete den Weg zu noch härteren Angriffen auf die Arbeiterklasse.

Im zweiten langen Jahrzehnt von 1992 bis 2002 strukturierte der Staat seine Wirtschaft um, indem er kleine und mittlere Staatsunternehmen privatisierte oder schloss und die großen Staatsunternehmen in profitorientierte Konzerne überführte. Millionen Arbeiter_innen verloren ihre Jobs, und viele von ihnen konnten im Privatsektor keine neue Anstellung finden und bildeten die neue Klasse arbeitender und arbeitsloser Armer. Diese Zerschlagung der Eisernen Reisschale führte Ende 1990er Jahre zu großen Kämpfen der städtischen Arbeiterklasse, welche die Umstrukturierung nicht stoppen konnten, sie aber verlangsamten und materielle Zugeständnisse durchsetzten. Gleichzeitig nahm das in die chinesischen Ostprovinzen hineinströmende transnationale Kapital enorm zu. Im Laufe der 1990 Jahre wanderte die Mehrheit der jungen Landbevölkerung in die Städte, um in den Fabriken, auf den Baustellen und in den städtischen Dienstleistungen zu arbeiten. Das Regime erkannte, dass es die Formen der Repression und der Konfliktlösung modernisieren musste. Es baute eine große Bereitschaftspolizei zur Aufstandsbekämpfung auf, schuf aber auch einen neuen arbeitsrechtlichen Rahmen und Mechanismen zur Schlichtung von Arbeitskonflikten.

Das dritte lange Jahrzehnt begann etwa 2002. Die KP erlaubte der neuen Elite den Parteieintritt, was sie zur Kommunistischen Partei der Kapitalisten machte. Die neue Klassenzusammensetzung nahm in der steigenden Zahl von Kämpfen Gestalt an. Die zweite Generation der Wanderarbeiter_innen kam in den 2000er Jahren in die Städte. Sie lernte aus den Erfahrungen der älteren Migrant_innen oder Familienmitglieder aus ihren Dörfern. Sie will in der Stadt bleiben, über einen Teil des von ihr geschaffenen Reichtums verfügen können und ist bereit dafür zu kämpfen. Die Migrant_innen werden weiter als “Landbevölkerung” gesehen und müssen Wege finden, das immer noch existierende Haushaltsregistrierungssystem (hukou) zu unterlaufen, das ihnen einen ähnlich unsicheren sozialen Status verleiht, wie ihn “vorübergehende” Migrant_innen in westlichen Ländern haben. Darüber hinaus gab es in den 2000er Jahren zahlreiche Bauernkämpfe gegen die Enteignung ihrer Schollen, Landraub, industrielle Umweltverschmutzung und staatliche Korruption. Die gestiegene Zahl von Kämpfen hat das Regime zu Feuerwehr-Aktionen gezwungen. Wenn es zu großen proletarischen oder bäuerlichen Kämpfen kommt, schickt die Regierung nicht nur die Bereitschaftspolizei, sondern auch Regierungsbeamte mit Koffern voll Geld. Wieder wurden neue Gesetze und staatliche Agenturen geschaffen, die soziale Unzufriedenheit kanalisieren sollen. Das Ganze wird unterstützt durch die lächerliche, konfuzianische staatliche Propaganda einer “harmonischen Gesellschaft” – eine Drohung an alle, die den sozialen Frieden “brechen” und die Herrschaft der Kommunistischen Partei gefährden.3

Ein viertes langes Jahrzehnt oder der Anfang vom Ende?

In einigen Jahren werden wir das Jahr 2010 vielleicht als Anfang des vierten langen Jahrzehnts ausmachen. Die globale Krise und die weltweit zunehmenden sozialen Kämpfe haben die Rahmenbedingungen verändert. In China können die sozialen Krisen und Konflikte neue Möglichkeiten der Veränderung schaffen. Der Honda-Streik und die anschließende Streikwelle haben – zusammen mit der Selbstmordserie beim riesigen Elektronikhersteller Foxconn – großen Einfluss auf die öffentliche Debatte über Arbeitsunruhen und soziale Gerechtigkeit in China gehabt. Während ein Teil der Proletarier_innen Streiks als Kampfmittel einsetzen kann (weil sie in industriellen Einheiten mit Hunderten oder Tausenden anderen arbeiten, die ähnliche Interessen haben), setzen andere weiter auf Massenaufstände und Riots als Mittel, ihre Wut auszudrücken: eine Form der “Tarifverhandlung durch Randale” (collective bargaining by riot). Die steigende Zahl autonomer Organisierungsformen unter Arbeiter_innen und Bauern hat das Gespenst der Revolte neu belebt und abermalig innerhalb der Machtstrukturen zu einer Debatte darüber geführt, wie sie mit dem
sozialen Druck von unten klarkommen können.

Im Zusammenhang mit dem verstärkten Klassenantagonismus haben sich unterdessen seit den 1980er Jahren viele der die chinesische Gesellschaft abstützenden Institutionen dramatisch verändert. Dies hat zu einer Krise der sozialen Reproduktion und des Geschlechterverhältnisses sowie zu neuen (Frauen-) Kämpfen um die Organisation der Reproduktion und um soziale Freiheit geführt. Migration, Ein-Kind-Politik und das latente Auseinanderfallen der biologischen Familie hat den Status der Frauen in den Familien und in der Gesellschaft verändert und eine tiefe “Versorgungskrise” (care crisis) geschaffen. Wie üblich nutzt das Kapital das Verlangen der Unterdrückten nach einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, um neue Formen der Kontrolle und Ausbeutung einzuführen. In diesem Fall nehmen viele Frauen die durch die Migration geschaffene Möglichkeit war, der patriarchalen Kontrolle und Unterdrückung im Dorf zu entkommen, nur um sich dann in einer neuen ausbeuterischen Industriewelt mit einem anderen patriarchalen Regime wiederzufinden. Dies hat zusammen mit der Kommodifizierung und den steigenden Kosten für häusliche Arbeit, medizinische Versorgung und Bildung enormes soziales Elend und verstärkte Existenzängste erzeugt. Arbeiter_innen in China sehen sich gezwungen, ihres persönliches suzhi
(soziale Fähigkeiten oder Humankapital) zu verbessern, um damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen und die Anforderungen der Reproduktion zu erfüllen.4 Gleichzeitig haben die langen Arbeitszeiten und die Migration über weite Entfernungen zu dramatischen “Zeitkrisen” im Alltagsleben der Arbeiter_innen geführt.5 Weitere soziale Spannungen entstanden durch die gleichzeitige Existenz von Arbeitslosigkeit, Prekarität, Ausbeutung, der fortgesetzten rassistischen Diskriminierung von Migrant_innen und sogenannten Minderheiten und die altenfeindliche (ageist) Spaltung durch industrielle Strategien, die junge Arbeitskräfte bevorzugen.

Der Staat weiß, dass er diese sozialen Spannungen weiter orchestrieren und soziale Technologien erfinden und anwenden muss, um die sozialen Revolten zu schwächen. Er versucht, die Mechanismen der Konfliktregelung an die neuen Arbeitsverhältnisse anzupassen. Dies schließt eine weitere Modernisierung des Migrationsregimes (hukou), neue Arbeitsbestimmungen und die strenge Konfliktkanalisierung durch staatliche Behörden und Gewerkschaften ein. Vor allem nutzt das Regime seine neue wirtschaftliche Macht und imperiale Rolle und versucht, das Wirtschaftswachstum abzusichern – trotz der katastrophalen Folgen für Natur und Menschen. Es muss sichergehen, dass es die selbstgesetzte Acht-Prozent-Wachstumsrate schafft, die es braucht, um genug Arbeitsplätze für alte und neue Proletarier_innen zu schaffen und damit weitere soziale Turbulenzen zu verhindern. Es braucht dieses Wachstum auch, um den kapitalistischen Traum des kontinuierlichen materiellen Fortschritts und das Versprechen auf ein besseren Leben erhalten zu können, welche die unterdrückten Klassen auf Arbeit, in Ketten und bei guter Laune halten.

In der möglichen vierten Phase der Reformen sehen wir einen selbsternannten marktsozialistischen Staat, der sich weiter auf kapitalistisches Wachstum und die Modernisierung konzentriert und nun die “Privatisierung” der landwirtschaftlichen Flächen auf dem Land plant. Diese könnte die Proletarisierung der Landbevölkerung abschließen, indem ihr die (begrenzten) Subsistenzmittel genommen werden. Der Staat mischt Strategien kapitalistischer Ausbeutung und workfare mit sozialen Techniken repressiver Toleranz, die sich von denen unterscheiden, mit denen sich die Proletarier_innen in “westlichen” Staaten auseinandersetzen müssen. Wenn wir eine Perspektive sozialer Umwälzung und Befreiung einnehmen, sind die unterdrückerischen Aspekte von Chinas Aufstandsbekämpfungsstrategien und die kapitalistischen Reparaturversuche (fixes) – wie Kapitalverlagerung, Automatisierung, Spaltung der Belegschaften entlang des Geschlechterunterschieds, usw.6 – offensichtliche Angriffsziele des Kampfes. Andere Ziele dagegen verschwimmen hinter den diffusen Interessen linker Akteure und ihren Ideologien.

Linke Sackgasse versus destruktive Kritik

Die Ausbreitung der Kämpfe in China könnte neue soziale Veränderungsperspektiven eröffnen. Vor zehn Jahren gingen viele Kämpfe noch auf Organisationsformen zurück, die auf verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhten. Oft waren sie auf zellulare Mobilisierungen in einer Firma oder Nachbarschaft begrenzt. Innerhalb eines Jahrzehnts ist eine neue Gruppe von Arbeiteraktivist_innen sowie sogenannter Bürgeranwält_innen und -journalist_innen entstanden, und Freundes- und Interessengruppen haben die Verwandtschaftsnetzwerke ergänzt.7 Trotzdem sich die hukou-Spaltung (in ländliche und nicht-ländliche Arbeiter_innen) und Arbeits- und Community-Hierarchien in den Streikkomitees und selbstorganisierten Initiativen widerspiegeln, zeigt sich eine erstaunliche, von der Klassen(neu)zusammensetzung ausgehende soziale Dynamik: Streikwellen, Nachahmer-Streiks (copycats), Domino-Widerstand von unten (der sich z.B. in einem Industriegebiet fortsetzt), Debatten über Bedingungen, Kämpfe und Organisierungs- und Veränderungsstrategien in der digitalen Wolke der Chatrooms und Websites, aber auch entlang der realen Migrationsrouten und innerhalb der proletarischen Communities. Dies wirkt sich auf die ländlichen, migrantischen und urbanen Arbeiterklassen aus, einschließlich der sogenannten Ameisen (yizu), gut ausgebildete aber prekäre Angestellte (white-collar), die auf eine Karriere hofften und sich in ungelernten Jobs wiederfinden. Das chinesische Regime fürchtet, dass diese neue Unterklasse mit den Proletarier_innen mit manuellen und Dienstleistungs-Jobs (blue-collar und pink-collar) zusammenkommen und die jetzige Ordnung untergraben könnte – wie während der arabischen Rebellionen.

Was wir im weitesten Sinne als “Linke” bezeichnen können, ist in China unterdessen klein und gespalten. Ein bedeutender Teil wird von verschiedenen Interpretationen des Maoismus beeinflusst. Er unterstützt Arbeiterkämpfe, klebt aber weiter an Parteikonzepten und nationalistischen Positionen. Aktivistische NGOs, von denen viele von Stiftungen, Gewerkschaften oder Kirchen aus Hongkong oder anderswo im Westen unterstützt werden, oszillieren zwischen Sozialarbeit und staatsorientiertem Reformismus oder auch zwischen Graswurzelaktionen und Arbeiterselbstermächtigung. Die gewisse Verbreitung neomarxistischer und feministischer Ideen in jungen, studentischen Kreisen sowie ein neues Interesse an Arbeiterkämpfen und das Verlangen, darin mitzumischen, sind vielversprechende Zeichen. Diese kleine “Linke” muss sich aber weiterhin einerseits mit Zensur, Repression und Drohungen von Seiten der Sicherheitsbehörden auseinandersetzen, und andererseits dem starken Druck aus den Staats- und Parteiapparaten standhalten, die verlangen, dass sie der Linie der “sozialen Harmonie” folgen und dabei helfen, Klassenmacht in stumpfe Waffen einer Sozialpartnerschaft zu verwandeln.8

Ein Beispiel für linke Illusionen und Lobbypolitik ist die Debatte über Gewerkschaften. Diese sind ein mögliches Instrument zur Kontrolle und Befriedung von Arbeiterkämpfen. Sie repräsentieren materielle Arbeiterinteressen gegen die Interessen von Kapital und Staat, aber lediglich in bestimmten systemischen Grenzen und unter Anerkennung kapitalistischer Mechanismen – andernfalls müssten sie aus ihrer gewerkschaftlichen Rolle ausbrechen. In China sind die Gewerkschaften immer noch Massenorganisationen der KP. Sie sind direkt abhängig von der finanziellen Unterstützung durch den Staat und den Anordnungen der Regierung unterworfen. Sie wenden sich gegen alle Streiks und greifen unabhängige Formen der Arbeiterorganisierung an. Das hindert linke – maoistische oder andere – Verfechter kämpferischer oder reformistischer Gewerkschaften nicht daran, eine “Reform” der staatlichen Gewerkschaften zu fordern, damit diese als wahre Gewerkschaften gegenüber Kapital und Staat auftreten können. Andere linke Vorkämpfer bevorzugen den Aufbau unabhängiger Gewerkschaften nach westlichem Modell und meinen, diese würden im Arbeiterinteresse handeln. Sie ignorieren die lange Geschichte gewerkschaftlicher Kompromisse und der Schwächung von Arbeiterkämpfen durch solche Gewerkschaften in Ländern rund um den Globus.

Statt die rechten “linken” Reparaturwerkzeuge für auseinanderfallende kapitalistische Sozialstrukturen zu schaffen und die Zahnräder der Schlichtung und Befriedung sozialer Kämpfe zu fetten oder gar dem Mythos vom “Arbeiterstaat” neues Leben einzuhauchen, sollte die Linke weiter Prozesse der Klassen(neu)zusammensetzung unterstützen, indem sie die Zensur unterläuft, mehr Informationen über die Kämpfe in China und darüber hinaus verbreitet und ihre konstruktive Rolle in den Grenzen des Kapitalismus aufgibt und stattdessen Werkzeuge destruktiver Kritik entwickelt. Diese Form der Kritik muss durch die staatliche Propaganda wie auch den Nebel blicken, der die kapitalistische Ausbeutung umgibt, und sie muss Licht auf die Kämpfe werfen, die Perspektiven jenseits des Kapitalismus eröffnen können. Konkrete Methoden sollten wenigstens zwei Elemente umfassen, von denen sich auch in Chinas Geschichte revolutionärer Politik Spuren finden lassen: die Analyse der Klassen(neu)zusammensetzung aus dem Blickwinkel der Proletarier_innen und anderen Unterdrückten; und Variationen von conricerca (Mituntersuchung), dem Versuch durch militante Untersuchungen die Grenzen zwischen Proletarier_innen, Aktivist_innen und sogenannten Intellektuellen abzubrechen, in China selbst und in Beziehung zu Proletarier_innen und Aktivist_innen woanders – als Teil einer neuen Organisierung von unten.

Globalisierte Perspektive

Dies ist natürlich nicht nur eine Herausforderung für die Linke in und um China sondern in der ganzen Welt. Es ist verblüffend, dass nach Jahrzehnten gescheiterter Projekte linker Parteien, nationaler Befreiungsbewegungen, des Staatssozialismus und der Sozialdemokratie ein großer Teil der Linken immer noch an der alten linken Erzählung der Staatsbildung, parteibasiertem Parlamentarismus, Paternalismus und Machtpolitik festhält – und dass in einer Zeit globaler Krise und weltweiten Elends, die zu beispielloser sozialer Wut und zahlreichen Rebellionen geführt hat.

Es ist Zeit, sowohl das Billiglohnmodell als auch die Konzepte von Sozialpartnerschaft und sozialstaatliche Kompromisse anzugreifen. Die Linke muss die Strategien des Konsumentenboykotts, der Unternehmensverantwortung (corporate responsibility) und des linken Lobbyismus hinter sich lassen und sich für nicht-paternalistische Solidaritätsformen über die materiellen wie virtuellen Grenzen hinweg engagieren. Der überholte Internationalismus muss der Perspektive einer globalen Arbeiterklasse weichen. Diese Klasse ist bisher noch entlang des Nord-Süd-Gefälles, durch nationale Arbeitsmärkte (wie auch sexistische und rassistische Arbeitsteilung innerhalb dieser Märkte) und entlang der globalen Migrationsketten gespalten, aber die globale Kampfwelle eröffnet Möglichkeiten, diese Grenzen von unten anzugreifen und abzuschaffen.

Das globale Kapital ist nach China gegangen und hat eine Koalition mit dem Parteistaat gebildet, der überleben und seine Herrschaft verteidigen wollte. Konflikte folgten, erst in den Sonderwirtschaftszonen entlang der chinesischen Ostküste, aber jetzt auch den Routen der Kapitalverlagerung nach Zentral- und Westchina folgend. Wenn der Druck von unten zunimmt und das Regime erfolgreich zu noch mehr Zugeständnissen zwingt, und wenn sich die globale Krise vertieft und in China auswirkt, könnten die sozialen Kämpfe auch auf die globale Ebene zurückschwappen, mit den Sozialrevolten woanders zusammenkommen und das kapitalistische Krisenmanagement durcheinander bringen. Soziale Kämpfe haben oft keine politischen Forderungen – in China genauso wenig wie anderswo –, aber wenn sie eine Massenbewegung bilden, können sie das kapitalistische Netz von Ausbeutung und Unterdrückung überdehnen und so eine Weg in eine Welt jenseits kapitalistischer Verhältnisse ebenen. Dieser Prozess könnte gerade begonnen haben, und die Kämpfe in China werden eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Richtung festzulegen und den Ausgang zu bestimmen.

Lasst uns mitmischen.

(Zuerst erschienen in Mutiny #65, 5/6 2012)


Fußnoten

1 Viele Vertreter der neuen kapitalistischen Klasse Chinas sind (frühere) Partei- und Regierungsbeamte oder deren Kinder.

2 Wie die KP die maoistischen Konzepte des Klassenkampfes in den 1980er Jahren beseitigte – und damit einem globalen Trend des “Abschieds von der Arbeiterklasse” folgte –, und wie sie diese mit Weber’schen Konzepten sozialer Schichtung ersetzte, dazu siehe Pun Ngai/Chris King-Chi Chan: “Die Subsumtion des Klassendiskurses in China.” In: Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung
in China
. Berlin 2010, S. 258-76.

3 Die KP hat das Konzept einer (sozialistischen) “harmonischen Gesellschaft” in den frühen 2000er Jahren entworfen und damit öffentlich unterstrichen, dass sie sich nicht nur auf wirtschaftliches Wachstum, sondern auch auf soziale Gerechtigkeit konzentrieren will. Das Konzept stammt aus dem autoritären Rahmen des Konfuzianismus, den die KP in den Jahrzehnten davor als “feudalistisch” bezeichnet und abgelehnt hatte.

4 Für eine Darstellung von suzhi als neoliberales Konzept – ähnlich dem “lebenslangen Lernen” oder “Selbstmanagement” – siehe Yan Hairong, “Zwischen Ruralität und Autonomie im Arbeitsprozess – Migrantische Hausangestellte im heutigen China.” In: Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China. Berlin 2010, S. 161-90.

5 Zum Konzept der mangelnden Kontrolle über die Zeit und sich daraus ergebende “Zeitkrisen” siehe aus einer feministischen Perspektive Liu Jieyu: Gender and Work in Urban China. Women Workers of the Unlucky Generation. London/New York (2007) und die Besprechung des Buches in Wildcat, “Arbeiterinnen im maoistischen Patriarchat.” Wildcat #80, Beilage “Unruhen in China”, Dezember 2007, S. 43-51.

6 Zu den fixes siehe Beverly Silver, Forces of Labor – Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin (2005).

7 Siehe Pun Ngai/Chris King-Chi Chan, “The making of a new working class: a study of collective actions of migrant workers in South China.” The China Quarterly, 198 (2009): 287–303.

8 Eine genauere Auseinandersetzung mit der chinesischen “Linken” sprengt den Rahmen dieses Artikels. Für eine Diskussion des maoistischen Erbes und der liberalen sogenannten “neuen Linken” siehe Lance Carter, “A Chinese Alternative? Interpreting the Chinese New Left Politically.” Insurgent Notes, Nr. 1 (Juni 2010).

 

This entry was posted in Texte and tagged . Bookmark the permalink.