von Han Yuchen
[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]
Das erste Mal traf ich Ji an einem Sonntag im Hochsommer 2010. Es war nachmittags um zwei Uhr, die Sonne brannte und das Licht blendete. Ji stand auf der Brücke am Südtor der Foxconn-Fabrik in Shenzhen-Longhua und war schnell einverstanden, mit uns über seine Erfahrungen zu sprechen.
Ji trug bei diesem ersten Treffen eine geglättetes weißes Hemd, eine gebügelte Faltenhose und schwarz glänzende Lederschuhe. In der Hand hatte er ein Buch mit dem Titel “Abkürzung zum Erfolg”. Die Aufmachung war im Vergleich zu den meisten seiner KollegInnen ungewöhnlich: Sein aufrechtes und selbstbewusstes Auftreten ließ uns erst vermuten, dass er im Vertrieb tätig ist. Als ich seine Aufmachung und sein Auftreten lobte, erklärte er: “Das liegt daran, dass ich abends zur Schulung gehe. Da geht es um das Anpreisen amerikanischer, gesunder Ernährungsprodukte. Die Schulung ist gut und wichtig, deswegen ziehe ich mich so ordentlich an.”
Ji stammt aus Nanyang in der Provinz Henan. Er wurde im Jahr 1986 geboren und hat eine fünf Jahre ältere Schwester. Seine Eltern starben beide, als er noch jung war. Die Großmutter und ein Onkel zogen die Geschwister auf. Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme zu Hause, zog Ji nach Abschluss der Unteren Mittelschule los und suchte Arbeit. Zunächst ging er in die Provinz Shandong und arbeite zwei Jahre lang in einer Druckerei. Im Jahr 2007 fing er bei Foxconn in Yantai, Provinz Shandong, an. Ein Jahr später kam er auf Vermittlung von Leuten aus seiner Heimat nach Shenzhen und arbeitete in der Foxconn-Fabrik in Guanlan. Aufgrund der Wirtschaftskrise und dem Auftragsrückgang Ende 2008 wurde er gekündigt. Danach arbeitete er in einer Fabrik in Shenzhen-Shiyan, die jemand aus seiner Heimat betrieb. Im Dezember 2009 wurde er wieder bei Foxconn eingestellt, arbeitete diesmal aber im Fabrikkomplex in Longhua. Seither war er in zwei Abteilungen, in denen Apple iPads und iPhones produziert werden.
Nur für den Lebensunterhalt
Ji hatte schon dreimal bei Foxconn angefangen und zweimal aufgehört, und seine Gefühle gegenüber dem Unternehmen waren gemischt: “Eine reguläre und feste Arbeit, relative gute Löhne und Sozialleistungen – deswegen habe ich mich letztendlich für Foxconn entschieden. Die Arbeit ist hart, aber im Vergleich zu anderen Fabriken ist die Bezahlung ganz okay.”
Ji arbeitete in der Qualitätskontrolle für iPads und musste die Tablet-Bildschirme testen. “Bei der Arbeit trage ich einen Staubschutzanzug und einen Mundschutz. Jeden Tag muss ich unter Neonlicht und Mikroskop über zweitausend iPad-Bildschirme auf Fehler, Blasen und Kratzer testen.” Ji demonstrierte es gestenreich. Zweitausend ist die normale Produktionsquote, diese wird aber je nach Auftragslage oft heraufgesetzt.
Ich wunderte mich und fragte: “Jeden Tag immer wieder so viele Bildschirme testen zu müssen, ist das nicht sehr eintönig?” Ji antwortete ganz ruhig: “Ich habe mich schon an diese mechanische Arbeit gewöhnt.” Ich fragte weiter nach: “Wenn du mit dieser Schutzkleidung arbeiten musst und dich erkältest und eine verstopfte Nase hast, kannst du dann überhaupt noch atmen?” Ji antwortete: “Im Staubschutzbereich darf man keine Sachen mit hineinnehmen, auch keine Papiertaschentücher oder Arzneimittel. Wenn du solche Probleme hast, musst du selbst damit klarkommen. Die Arbeitsumgebung lässt viel zu wünschen übrig. Im Vergleich mit der Arbeit von Bauarbeitern oder Lastenträgern sind die Bedingungen aber gut. Wenn wir tatsächlich erkältet sind und Schnupfen haben, können wir nur die Gaze-Tücher nehmen, die zur Reinigung benutzt und neben der Werkbank gesammelt werden.”
Die Produktionsquote von zweitausend Bildschirmen am Tag bedeutet, dass bei zehn Arbeitsstunden täglich jede Stunde zweihundert Bildschirme getestet werden müssen. Für alle Testschritte bleiben weniger als zwanzig Sekunden pro Bildschirm. Das setzt voraus, dass es keine Arbeitsunterbrechungen gibt. Ji erzählte uns, dass alle vermessenen Endprodukte am Band die Endkontrolle (FQC: final quality control) durchlaufen, bevor sie schließlich noch von der Kunden-Qualitätskontrolle (CQC:costumer quality control) getestet werden. Sollte irgendwo ein Fehler auftauchen, zahlen sie (ihm) keine Leistungsprämie. Er musste sich also in den zwanzig Sekunden einhundert Prozent konzentrieren. Wenn er nicht richtig aufpasste und ihm was entging, bekam er Probleme.
Wir erfuhren von Ji aber auch, dass die KollegInnen am Fließband manchmal geschickt Widerstand leisten: “Die ArbeiterInnen organisieren passive Bummelstreiks. Die SOP-Abteilung (standard operating procedures) misst regelmäßig die höchste Geschwindigkeit für jeden Arbeitsschritt. Wir müssen nur zuweilen die Geschwindigkeit drosseln, dann wird der Maximalwert etwas reduziert. So helfen wir uns selber, aber im Kampf mit der SOP-Abteilung muss man aufpassen, weil die IPQC-Abteilung (in-process quality control) Untersuchungen durchführt und mitkriegen kann, dass wir bummeln. Dann ziehen sie was vom Lohn ab. Außerdem erhöhen manche ArbeiterInnen oft auch selbst die Geschwindigkeit, damit sie möglichst früh Feierabend haben. Das führt dazu, dass die da oben ständig unsere Produktionsquote erhöhen.” Die beschriebene Widerstandsform wird aber nicht langfristig geplant. “Alle wissen, wenn du in einer Fabrik bist und gerne kämpfen willst, wirst du dort nicht mehr lange arbeiten können. Das macht nur Sinn, wenn du nicht planst, weiter in der Fabrik zu bleiben.”
Ji schien ein guter und schwer schuftender Arbeiter zu sein. Er meinte, “dass man die guten und die schlechten Seiten sehen muss.” Einerseits war die Arbeit hart, eintönig und mechanisch, aber andererseits hatte er sich trotzdem erneut dafür entschieden und musste das jetzt aushalten und sich wieder daran gewöhnen. Er brauchte Vertrauen und Geduld. Seit er Widerstand leistete, fühlte er sich besser und war auch ein bisschen stolz. Gleichzeitig hatte er Angst, die Arbeit bei übermäßigem Widerstand wieder zu verlieren und keine Abfindung zu bekommen.
Jis harte Arbeit und sein Gehorsam hängen möglicherweise mit seiner Erziehung zusammen. Er erzählte uns, dass seine Eltern früh gestorben waren und er deswegen in der Obhut seiner Großmutter, eines Onkels und einer Tante aufgewachsen war. Er war von der Hilfe anderer abhängig gewesen und hatte gelernt, alles still zu ertragen. Zudem war es der Familie wirtschaftlich nicht gut gegangen, sodass Ji jede Chance, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schätzen lernte. Darüber hinaus erkannte er, dass die harte Arbeit gar nicht so unerträglich ist.
Er liest gerne
Gleichzeitig hatten die von ihm gelesenen Bücher einen großen Einfluss auf Ji. Er liebte das Lesen. Wir waren überrascht, dass ihn das so interessierte. Zu seinen Favoriten gehörten die Bücher “Die Reformen des Wang Anshi”, “Wie der Stahl gehärtet wurde” und das “Buch der Riten”. Ji hatte sie sich bei Mitbewohnern im Wohnheim ausgeliehen. Es gab nicht viele in der Fabrik, die gerne lasen, aber die Gleichgesinnten trafen sich und tauschten Bücher aus. Ji sagte, dass er die Entschlossenheit und den Ehrgeiz von Wang Anshi bewunderte, ebenso die Stärke und Treue von Pawel Kortschagin, dem Protagonisten in “Wie der Stahl gehärtet wurde”. Vielleicht war es der beharrliche Charakter dieser beiden, der Ji so beeinflusste und ihn dazu brachte, alle Probleme und Erniedrigungen durchzustehen.
Auf das Fabriksystem angesprochen sagte Li, dass er vor allem mit dem übergenauen Produktionsmanagement Probleme habe. “Zum Beispiel schreibt die SOP-Abteilung für jede Bewegung am Arbeitsplatz einen genauen Arbeitsablauf vor. Du musst erst die linke Hand bewegen und dann die rechte, eine Sekunde lang musst du diese Position einnehmen, dann musst du das machen. Alles wird streng kontrolliert. Das Stanzen und Formen ist äußerst anstrengend. Du musst zehn Stunden lang immer dieselbe Position einhalten.”
Auf die Linienführer angesprochen, sagte Li: “Die Linienführer sind alle unterschiedlich drauf. Der Spaß ist vorbei, wenn einer einen miesen Charakter hat. Es ist wichtig, mit den Linienführer gut zu stehen, und ich habe ein relativ gutes Verhältnis zu meinem Linienführer. Wenn ich abends mal frei haben und keine Überstunden machen will, bekomme ich normalerweise die Erlaubnis. Diesen Monat habe ich schon dreimal gefragt, ob ich gehen kann. Manche Linienführer sind bösartig. Sie behandeln besonders die PraktikantInnen schlecht und hauen oft auf den Tisch. Ich habe schon erlebt, dass einfache ProduktionsarbeiterInnen zur Strafe die SOP-Arbeitsanleitungen abschreiben oder dableiben und in einer Reihe antreten mussten.”
An einer Beförderung hate Ji dennoch kein Interesse: “Eine Beförderung hängt vor allem von der Qualifikation, der Motivation und den Beziehungen ab. Außerdem musst du Glück haben. Ich glaube, die Qualifikation ist das Wichtigste. Wenn du deine Aufgaben schlecht machst, bringt dir die Hintertür auch nichts mehr. Wenn man dann aufsteigt, wird man den Job nicht lange machen. Außerdem wollen nicht alle Leute Linienführer oder Gruppenleiter werden. Auch wenn du etwas mehr Macht hast, bleibt der Lohn doch mehr oder weniger derselbe. Entscheidend aber ist, dass du von oben und von unten Druck kriegst. Ich habe deswegen gar kein Interesse, Linienführer zu werden, und habe sowieso gar nicht vor, so lange in der Fabrik zu bleiben. Ich will eher mehr Zeit damit verbringen, Bücher zu lesen, Freunde zu treffen und mir zu überlegen, wie ich mich langfristig weiterentwickeln kann. Wenn du aufsteigen willst, ist es wichtig, mit den Vorgesetzten gut auszukommen. Ob wer viel kann oder nicht, im Grunde müssen sich alle bemühen, die Vorgesetzten für sich zu gewinnen, wenn es um materielle Dinge, die Sprache oder was anderes geht.”
Ji war zwar mit den Bedingungen in der Kantine und im Wohnheim unzufrieden, fand das aber nicht so schlimm. Er fand das nicht so schlimm und wollte für eine kurze Zeit weiter bei Foxconn arbeiten. In den meisten anderen Fabriken gab es ähnliche Probleme, und wichtiger noch: Für Ji war die Arbeit kein Lebensinhalt, es ging ihm nur darum, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, Geld zu sparen und recht bald ein Geschäft zu gründen. Nur das zählte.
Das perfekte Unternehmen
“Ich bin durch Zufall auf ‘Perfekt’ gestoßen. Es passierte im Juni diesen Jahres, als ich der Produktionslinie für das iPhone zugeteilt wurde. Eine Kollegin beschwerte sich und fragte, wann die anstrengende und langweilige Arbeit endlich zu Ende ist. Ich sagte, dass wir doch jeden Tag da weggehen und unsere eigene Sache aufziehen könnten. Mein jetziger Vorgesetzter hörte das damals zufällig und begriff, dass ich vorankommen wollte. Er lud mich ein, eine Firma kennenzulernen, die ‘Perfekt’ heißt. Auf seinen Vorschlag hin ging ich mit ihm am Wochenende zur Schulung. Das war genau das Richtige für mich, also stieg ich da ein.”
“Perfekt” ist eine Direktvertriebsmarke, die so genannte Gesundheitskost, Kosmetik- und Gesundheitspflegeprodukte anbietet. Bei Foxconn sickern vor allem Vertriebsleute ein, die unter den ArbeiterInnen neue VerkäuferInnen anwerben, um ihre Produkte weiter abzusetzen. Diese Produkte sind oft nicht billig. Ein komplettes Kosmetikset kostet ein paar Tausend Yuan. Für eine Arbeiterin sind das ein oder zwei komplette Monatslöhne. Jeder Vertriebsmitarbeiter muss mindestens fünfzig ArbeiterInnen als Kundinnen gewinnen. Sie bilden ein streng abgestuftes Absatznetzwerk. Noch schwerer wiegt, dass Perfekt oft alle möglichen Täuschungsmanöver einsetzt, darunter sogar die Produktion gefälschter CCTV-Sendungen, um ArbeiterInnen zu verleiten, an Schulungen und Veranstaltungen teilzunehmen. Ji zeigte uns, wie Perfekt um den Foxconn-Fabrikkomplex in Shenzhen herum regelmäßige Schulungen durchführte. Mittwoch- und Sonntagabend hatte er Unterricht, und jedes Mal nahmen dreißig Foxconn-Beschäftigte teil. Jeden Monat gab es einmal die Gelegenheit, die Firmenzentrale in Zhongshan zu besuchen. Daran beteiligten sich regelmäßig um die fünfzig Leute, etwa achtzig Prozent davon waren von Foxconn. Die Schulungen am Mittwoch und Sonntag waren umsonst, aber für Anfahrt und Unterkunft im Rahmen der Schulung in der Firmenzentrale musste jede selbst aufkommen. Unter jenen, die bereits früher an den Schulungen teilgenommen hatten, waren nicht wenige, die vorher Foxconn-MitarbeiterInnen gewesen waren. Sie hatten mittlerweile in Shenzhen oder im Heimatort Vertriebsstellen aufgebaut. Ji hoffte, dass er in Zukunft ebenfalls eine aufmachen kann.
Wenn Foxconn-ArbeiterInnen keinen Ausweg und keine Hoffnung sahen, schuf Perfekt die Illusion einer erfolgreichen Lebensführung. Perfekt entwarf ein Erfolgsziel und zeigte einen Weg dorthin. Seine pyramidenförmige Vertriebsstruktur reichte vom Generaldirektor, über die stellvertretenden Direktoren, die Diamantklasse, die Goldklasse, die Silberklasse und die Kupferklasse bis zur Klasse einfacher VertriebsmitarbeiterInnen. Jede Klasse konnte abhängig von den Vertriebseinnahmen der jeweils unteren Klasse aufsteigen. In dieser strengen Organisationsstruktur setzte sich also jede Ebene mit aller Kraft für die Entwicklung der Vertriebsmitarbeiter eine Ebene tiefer ein.
Ji gab zu, dass der Direktverkauf ihn stark verändert hatte. Er besaß mehr Ehrgeiz und ein gestärktes Selbstbewusstsein, und er hatte Ziele. Er betonte uns gegenüber: “Mir gefällt am besten, dass ich mit erfolgreichen Menschen zu tun habe, von denen ich lerne. Sie geben nicht nur ihre Lebenserfahrung weiter, sondern sie geben dir auch Kraft.” Jis war der Meinung, dass “erfolgreiche” Menschen nicht unbedingt sofort Erfolg haben, sie müssen sich vielmehr anstrengen und etwas aufbauen.
So dachte Li, nachdem er vor nicht allzu langer Zeit mit Perfekt in Kontakt gekommen war. Uns schien es eindeutig, dass Ji sich von der Mehrzahl der KollegInnen unterschied. Er hat diesen Ehrgeiz aufzusteigen und setzt sich energisch für seine Ziele ein. Wir waren sogar eine Zeit lang froh, dass der Direktverkaufslehrgang ihn positiv verändert hatte. Außerhalb der repressiven, einem Gefängnis gleichenden Fabrik schien sich ein Raum zu öffnen, der den ArbeiterInnen neues Selbstvertrauen und neue Hoffnung gab. Wir fanden jedoch schnell heraus, dass Perfekt eine böse Falle ist, und waren äußerst besorgt. Während Perfekt den WanderarbeiterInnen die Hoffnung auf ein “perfektes” Leben gab, zog die Firma den WanderarbeiterInnen das bitter und mit Schweiß und Blut verdiente Geld betrügerisch aus der Tasche.
Die perfekte Falle
Besorgt und neugierig trafen wir Ji drei Monate später, im Spätherbst. Es war an einem Montag gegen acht Uhr abends. Ji hatte gerade mehr als zehn Stunden Tagesschicht hinter sich, erschien aber dennoch rechtzeitig, wenn auch erschöpft, am Treffpunkt.
Ji kontrollierte nun schon 3.000 iPad-Bildschirme täglich. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er sagte, dass sein Monatseinkommen nach der Erhöhung des Grundlohns auf 2.000 Yuan deutlich gestiegen war. Er konnte auf beinahe 3.500 Yuan kommen. Gleichzeitig verringerte Foxconn aber die Überstunden (und damit die ausgezahlte Überstundenvergütung) und erhöhte die Produktionsquoten. Den ArbeiterInnen blieb nichts anderes übrig, als noch intensiver zu arbeiten, was die Arbeit noch anstrengender machte. Ji hatte allerdings durch die Reduzierung der Überstunden auch mehr Zeit für sein “Unternehmen”.
“Jetzt habe ich neun Kunden. Fünf davon kaufen direkt bei mir ein, vier haben eine Kundenkarte. Leute mit Kundenkarten können hier bei mir einkaufen und bei irgendeiner Perfekt-Verkaufsstelle im ganzen Land. Dieses Ergebnis gilt zwar nicht als gut, aber solche Sachen müssen langsam wachsen. Es ist nicht leicht, das zu machen. Gewöhnlich setze ich alles dran, mit anderen Leuten zu sprechen und ihre Bedürfnisse zu erkennen. Manche haben zum Beispiel Pickel im Gesicht, also empfehle ich ihnen Aloe Vera-Gel. Das ist unser Topprodukt. Wenn sie das benutzen und es wirkt, kommen sie natürlich wieder und kaufen. Momentan sind alle meine Kunden KollegInnen von Foxconn. Sie denken, dass die Perfekt-Produkte gut zu gebrauchen sind und das Preis-Leistungs-Verhältnis relativ gut ist. Ich denke, wenn meine Fähigkeiten ein bestimmtes Niveau erreichen, kann ich versuchen, auch außerhalb der Fabrik zu verkaufen.”
Während er dies sagte, holte er nebenbei ein Atemerfrischungsmittel aus seiner Tasche und zeigte es uns. Seine Verkaufssprache klang schon sehr kompetent und professionell. Als wir hörten, dass eine Zahnpasta mehr als fünfzig Yuan kosten sollte, waren wir überrascht. Ji sagte: “Die Perfekt-Zahnpasta ist hochkonzentriert, man braucht nur einen Fingernagel voll, das reicht. Sie hält lange, hilft gegen Verletzungen und Verfärbungen, sie reinigt und schützt das Zahnfleisch. Wenn man genau hinschaut, stellt sich raus, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis sehr gut ist.” Aber selbst wenn das Produkt so gut ist, wie er sagte, bezweifelten wir weiter, dass einfache ProduktionsarbeiterInnen bereit sind, ein so teures Produkt zu kaufen.
Ji sagte: “Ich freue mich, wenn Leute meine Präsentation hören und dann Geld aus der Tasche ziehen, um Sachen zu kaufen. Wenn Leute es ausprobiert haben und für nützlich halten, bin ich auch glücklich. Ich liebe dieses Erfolgserlebnis. Als ich zum Arbeiten herkam, nahm ich schon mal an einer Schulung von Amway teil, aber ich war zu jung und traute mich nicht, das zu machen. Ich nahm auch an, dass es sich um ein Pyramidensystem handelt. Von Anfang an verstand meine Familie das Prinzip von Perfekt nicht. Sie hielt es auch für ein Pyramidensystem und war dagegen. Jetzt versteht sie es und ist nicht mehr dagegen, unterstützt es aber auch nicht. Sie weiß, dass es schwer ist. Ich habe ihnen schon mal einige Produkte mitgebracht, Artikel des alltäglichen Bedarfs und Gesundheitsartikel. Sie meinten, sie seien zwar teuer aber trotzdem gut zu gebrauchen.”
Auf unsere Frage, was sie bekommen, wenn sie Kunden anwerben, antwortete Li: “Erst wenn du zum Direktverkaufsvertreter wirst, kannst du anfangen, Geld zu verdienen. Dazu sind Verkaufsergebnisse notwendig. Das ist der Unterschied zwischen Direktmarketing und Pyramidensystem. Ich mache derzeit eigentlich gar keinen Gewinn. Ich zahle dafür, um anfangen und mitmachen zu können. Bisher sind es 12.000 Einheiten, und es läuft eher schleppend. Erst wenn es 36.000 Einheiten sind, zählt es als Direktverkaufsunternehmen. Eine Einheit sind 1,17 Yuan. Wenn ich zum Direktverkaufsvertreter werde, kann ich Foxconn verlassen. Dafür brauche ich aber ein Team und muss ein halbes Jahr lang die Quote erfüllen. 100.000 Einheiten reichen nicht. Es gibt hier viele, die die Quote erreichen. Einige frühere Abteilungs- und Gruppenleiter sind in die Heimat zurückgekehrt und haben ein Direktverkaufsgeschäft eröffnet. Perfekt gewährt für die Eröffnung eines Direktverkaufsgeschäfts keine finanzielle Anlaufunterstützung, aber wenn die Verkaufsergebnisse gut sind, kann es Prämien geben.”
Auch wenn Jis unternehmerische Aussichten nicht rosig waren, hatte er keine Zweifel und glaubte fest an Perfekt. Er nahm sich weiter Wang Anshi zum Vorbild: “Wang Anshi steckte so viele Schläge ein und zog doch standhaft über mehr als zehn Jahre seine Reformen durch. Diese Probleme und Rückschläge machen mir nichts aus.” In seinen Augen war das ein Unternehmen, und er war in der Aufbauphase.
Obwohl wir im Nachhinein die theoretische Verschiedenheit von Direktverkauf und Pyramidensystem verstanden, sahen wir in der Praxis kaum Unterschiede. Wir befürchteten, dass dieses sogenannte Unternehmen für Ji noch einiges Unheil mit sich bringen würde. Nach einem Moment der Stille fragten wir Ji nach seinen jetzigen Plänen. Ji sagte: “Ich habe dieselben Pläne wie vorher: Erst will ich mich um das Unternehmen kümmern. Das wird vielleicht fünf Jahre dauern.” Er hielt einen Moment inne, dann sagte er: “Am besten wäre, wenn ich Leute mit demselben Unternehmenskonzept fände. Ich hoffe, ihnen im Team von Perfekt zu begegnen.”
Es gab bereits viele ArbeiterInnen, die wie Ji vom Direktverkauf besessen waren. Wir konnten mitfühlen, wie wertvoll Wissen, Chancen und Hoffnung für die ArbeiterInnen sind. Sie sehnen sich nach einer Lebensveränderung, einer “Fachausbildung” und Erfolg. Eben weil Firmen und Regierung keine Schulungs- oder Bildungsmöglichkeiten bieten, denken die ArbeiterInnen, dass das Wissen des Direktverkaufs-Dozenten so wichtig ist. Während unserer Gespräche betonte Ji mehr als einmal, dass Firmen und Regierung kostenlose berufliche Qualifikationslehrgänge durchführen sollten, mit deren Hilfe ArbeiterInnen ihre Perspektive erweitern sowie ihren Bildungsstand und ihre Entwicklungsmöglichkeiten verbessern könnten.
Eben weil die ArbeiterInnen nicht nur zwischen diesen oder jenen Fabriken hin- und herwandern, sondern auch tagaus tagein dieselben mechanischen Bewegungen wiederholen, weil sie zwischen Stadt und Dorf hin- und herpendeln und Jahr für Jahr die Rolle der BauernarbeiterInnen spielen, ohne die Möglichkeit, ihren Status zu ändern und unabhängig Unternehmen zu gründen, haben trügerische Erfolgskonzepte und Werte, wie die von Perfekt präsentierten, eine solche Anziehungskraft. Die ArbeiterInnen hegen keinerlei Zweifel, und Direktverkaufsunternehmen wie Perfekt nutzen unweigerlich ihren Mangel an Entwicklungsmöglichkeiten aus.
Das perfekte Leben ist der unerreichbare Traum eines jeden Menschen, aber die ArbeiterInnen haben scheinbar nicht mal mehr Gelegenheit zum Träumen.