von Liu Ya, Kong Wei und Liu Jing
[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]
Als Ou über ihre Zukunftspläne sprach, fing sie an zu lachen. In diesem Moment sah sie sehr schön aus, klar und hell wie die Wolken, die vom Wind getrieben über den weiten Herbsthimmel zogen. “Eines Tages kaufe ich mir einen brandneuen Honda-City. Das wird dann ein Triumph, wenn ich nach Hause zurückkehre!”
Als wir die junge Frau in Kunshan trafen, war sie gerade 19 Jahre alt geworden. Trotz der mehr als drei Jahre Arbeit in der Foxconn-Fabrik hatte sich Ou ihre jugendliche Erscheinung und ihre kämpferische Haltung erhalten. Ihre Geschichte berührte uns dennoch zutiefst.
“Schon wieder ein Mädchen!”
Ou wurde in einem kleinen Dorf nahe der Kleinstadt Kekou im Kreis Dawu, Provinz Hubei, geboren. Sie beschrieb es als “feudalistisches Dorf”. Für die Familien war das Wichtigste die Geburt eines Sohnes. Danach gingen Familienmitglieder aufrecht und gehobenen Hauptes über die Straße. War es kein Sohn, wurden sie von Leuten gehänselt oder gar schikaniert. Als Ous Mutter schwanger wurde, waren alle voller Hoffnung. Sie rechneten nicht damit, dass es wieder ein Mädchen wird. Der Vater war enttäuscht und jammerte den ganzen Tag. Die Großmutter mütterlicherseits hatte ungeduldig darauf gewartet, das Kind im Arm halten zu können, und war nun ebenfalls enttäuscht. Sie wollte dem neugeborenen Leben nicht mal einen Namen geben. Die Verzweiflung war vollkommen, als die Mutter danach noch zwei Töchter gebar.
“Meine Mutter war in ihrer Jugend sehr schön, und mein Vater hat sie auch deswegen geheiratet. Nach der Hochzeit hörte mein Vater auf alles, was meine Mutter zu sagen hatte. Als sie aber nacheinander vier Töchter zur Welt gebracht hatte, verlor sie ihren Status in der Familie. Der Vater wurde zum Hausvorstand, und zu Hause galt nur noch, was er sagte. Jetzt behandelt mein Vater meine Mutter schlecht und schlägt sie sogar.” Da sie nur Töchter zur Welt gebracht hatte, wurde sie nach den Geburten schlecht behandelt. Niemand kümmerte sich um sie, und sie weinte oft. In den Augen der Familie und der Nachbarn war die Mutter zu einer Person geworden, die man auch schikanieren darf.
Als Tochter spürte Ou von klein auf das Leid der Mutter, und sie liebte sie deshalb umso mehr. Es ging zwar gegen die ältere Generation, aber wenn die Mutter wieder wegen nichts angegriffen wurde, nahm Ou ihren Mut zusammen und wehrte sich mit aller Kraft, um ihre Mutter zu schützen. Ou kam so in den zweifelhaften Ruf, “schlecht erzogen” zu sein. Ihr unglückliches Schicksal prägte Ous entschlossenen und rebellischen Charakter. “Ich wollte, dass alle im Dorf wissen, wie großartig die Tochter unserer Familie ist!”
Das erste Mal zum Arbeiten losziehen
Nachdem sie die Untere Mittelschule abgeschlossen hatte, ging Ou nicht weiter zur Schule. Das war aber nicht ihre Entscheidung. Sie wollte eigentlich auf eine Fachschule für Film-Make-Up in Wuhan, aber ihre Eltern waren damit nicht einverstanden. Sie waren der Meinung, dass das kein ehrlicher Beruf ist. Das führte zu viel Reiberei und Streit. Weiter auf die Schule zu gehen hätte bedeutet, dass die Eltern weiter dafür hätten bezahlen müssen. Das beunruhigte Ou. Zu der Zeit handelte ihr Vater mit Baumaterial, machte aber nicht viel Gewinn. Die Schulgebühren für sie und eine jüngere Schwester wären eine zu große Belastung gewesen. Ou wollte ihre Eltern auch nicht um Geld bitten. “Ich dachte damals, dass ich meinen Eltern was schuldig bin.”
Aus Wut zog Ou los, um Arbeit zu finden. Das war am 16. Juli 2007. Ou mit ihrem immer noch kindlichen Gesicht schulterte einen Schulranzen und ging nach Wuhan, wo sie in einer Textilfabrik anfing, in der schon ihre Cousine arbeitete. Da sie Berufsanfängerin war, bekam Ou in den ersten drei Monaten lediglich 400 Yuan als Lebensunterhalt. Sieben Monate später wurde der Lohn aber in einem Schub auf 1.600 Yuan erhöht. Ou hielt den Lohn für zufriedenstellend. “Ich war erst 16 Jahre alt. Wenn meine Mutter arbeitete, bekam sie nicht so viel wie ich. Ich konnte gar nicht alles ausgeben, was ich jeden Monat verdiente.”
Ou arbeitete ein Jahr lang in dieser Textilfabrik. Jeden Tag verbrachte sie an denselben drei Orten: im Wohnheim, in der Fabrik und in der Kantine. Es war ein einfaches Leben, aber der Tag kam, da hatte Ou genug davon. “Außer dem Wetter draußen vor dem Fenster änderte sich da nichts.” Es war, als versuchte man, einen unruhigen Geist in einen Körper zu pressen und nicht rauszulassen. Ou hoffte jeden Tag auf irgendeine Veränderung in ihrem Leben.
Nach Shanghai gehen, um die Welt zu sehen
Kurz danach ergab sich eine Gelegenheit. Die Textilfabrik wollte Beschäftigte zur Weiterbildung nach Shanghai schicken. Als Ou davon hörte, ging sie sofort zum Fabrikchef und bewarb sich dafür. Sie erzählte ihm, dass sie gute Voraussetzungen habe: Sie sei jung, werde nicht so bald heiraten und könne nach der Weiterbildung noch lange in der Fabrik arbeiten; anders als etwas ältere Frauen, die möglicherweise kurz nach ihrer Rückkehr [nach Wuhan] heiraten müssen und Kinder kriegen. Vielleicht waren es diese leidenschaftlich vorgetragenen Übertreibungen, vielleicht hat der Chef ihr aber auch geglaubt, jedenfalls kam er ihrer Bitte nach. “Eigentlich habe ich in dem Moment an gar nichts gedacht. Shanghai ist diese große Stadt, eine internationale Metropole. Seit ich klein war, kannte ich die ‘Perle des Ostens’ (Fernsehturm in Shanghai). Ich wollte da einfach hin, um was von der Welt zu sehen. Aus meinem Dorf waren vorher nur wenige nach Shanghai gekommen.”
Als Ou Shanghai dann sah, entsprach es so gar nicht ihren Erwartungen. Es war im Spätherbst, und nachts erreichten die Temperaturen nur etwas über zehn Grad. Im Fabrikwohnheim gab es allerdings kein warmes Wasser. Sie musste erst so alt werden, um das erste Mal in kaltem Wasser zu baden. Ou hörte, dass einige Frauen während der Menstruation sich nur mit kaltem Wasser wuschen und es ihnen dann gesundheitlich schlecht ging. Das bereitete Ou Sorgen.
Danach wurde es unerträglich. Ou blieb nichts anderes übrig, als mit anderen Frauen in ein öffentliches Bad zu gehen. Das kostete sie aber jedes Mal sieben Yuan. Das Essen war ebenfalls nicht gut. Obwohl sie mehr als ein Jahr dort blieb, konnte sie sich die ganze Zeit nicht an das Essen in der Fabrik gewöhnen. Noch enttäuschter war sie über den Lohn. Die Firma zahlte Stücklohn, aber die Lohnhöhe war ungewiss. Normalerweise bekamen verheiratete Beschäftigte etwa 1.800 Yuan im Monat, unverheiratete nur 1.200 bis 1.300 Yuan. Das war wesentlich weniger als in der Textilfabrik in Wuhan.
Ou rief jede Woche zu Hause an. Sobald sie den Hörer abnahm, fing sie an zu weinen. Ihre Mutter litt mit ihrer Tochter und sagte, wenn Ou es nicht mehr ertrüge, könnte sie nach Hause kommen. Ou entschied sich schließlich, doch zu bleiben. Der einzige Grund war, dass sie gegenüber den anderen nicht schlecht dastehen wollte. “Wir sind mit mehr als dreißig Leuten gekommen, und niemand wollte zurückfahren. Wäre ich zurückgefahren, hätte das so ausgesehen, als wäre ich zu weich und könnte das nicht durchstehen. Die zu Hause dachten das eh schon. Also sagte ich mir, wenn die anderen das durchstehen, dann kann ich das auch! Aber egal. Ich bin eh immer mit euch zusammen, sodass ihr meine Veränderung nicht mitbekommt. In Wirklichkeit kann ich eine Menge aushalten.”
Die schwierigen materiellen Bedingungen hätte sie vielleicht Zähne zusammenbeißend ertragen können, aber die mentalen Belastungen waren kaum durchzuhalten. In der Textilfabrik arbeiteten viele Frauen. Sie kamen oft alle zusammen und “tratschten”, vor allem die bereits verheirateten Arbeiterinnen. Ou wollte da nicht mitmachen und hielt – absichtlich oder nicht – Abstand zu ihnen. “Das war alle so langweilig… Jeden Tag ging es in der Fabrik darum, dass diese blöd sei und jene auch.” Sie sagte: “Wenn ich mit denen zusammen geblieben wäre, hätte ich früher oder später wie sie herumgetratscht.” Deswegen sprach Ou außer mit ihrer Cousine mit niemandem. Dieses scheinbar arrogante Verhalten verhinderte, dass sie Freundinnen gewann.
Es kam der Tag, an dem Ou dachte, ihre Geduld sei am Ende. Sie ging zum Bahnhof, um sich eine Fahrkarte in die Heimat zu kaufen. Die Flügel des unruhigen Geistes hatten wieder zu schlagen angefangen.
Kunshan
Ou kehrte dann aber doch nicht in die Heimat zurück. Wie das Schicksal so spielt, traf sie, als sie am Schalter wartete und sich fragte, ob sie eine Fahrkarte kaufen sollte oder nicht, auf einen hilfsbereiten Menschen. Die Frau war drei Jahre älter als sie und damals auch erst seit etwas mehr als einem Jahr zur Arbeit in Shanghai. Das sie im selben Alter waren und ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, kamen sich die beiden jungen Frauen im Nu näher. Sie sprachen über die Probleme, die vor ihnen lagen, über ihre Zukunftspläne, sie sprachen sich gegenseitig Mut zu und entschieden, in Shanghai zu bleiben und alles daran zu setzen, ihre Träume zu verwirklichen.
Mit ihrer älteren Freundin wurde Ous Leben in Shanghai sehr viel interessanter. Die Freundin nahm sie an der Hand und ging mit ihr auf die Nanjing-Straße, auf den Bund, in den Cheng-Huang-Tempel und auch auf die Perle des Ostens. Sie bummelten durch die Straßen, kamen an Kosmetikgeschäften vorbei, gingen rein und schauten den KosmetikerInnen zu, wie sie Kundinnen Make-up anlegten. Zurück im Wohnheim beschäftigten sich die beiden Frauen dann weiter mit den Kosmetik-Techniken.
Dieser alte Traum bereitete Ou endlose Freude. Eines Tage merkte Ou jedoch, wie sich die Freundin veränderte. Die Freundin hatte zuvor an einem Lehrgang der Direktverkaufsfirma Perfekt teilgenommen. “Bis dahin war ich modebewusster als sie, aber dann merkte ich, dass ich nicht mehr mitkam. Ihr gegenüber fühlte ich mich sogar etwas minderwertig.” Die Freundin veränderte ihr Aussehen nach und nach, und Ou, die sehr auf ihr Äußeres achtete, war beeindruckt. Auf Drängen der Freundin begann Ou daraufhin ihre Leben mit zwei Jobs.
Später wechselte Ou zu Foxconn in Kunshan, um den Perfekt-Markt auszuweiten. Obwohl die Arbeit bei Foxconn sehr anstrengend war, machte das Ou nicht aus. Sie hatte klare Ziele. Im Innersten ihres Herzens zog Ou eine Linie zwischen sich und den anderen Foxconn-ArbeiterInnen. Sie sagte: “Ich will nicht ein Leben lang arbeiten gehen müssen… Ich kann hier mit den KollegInnen über die Themen sprechen, über die sie sprechen wollen, aber ich weiß im Innersten, dass ich anders bin als sie…”
“Anders zu sein als die”, das war gar nicht so leicht umzusetzen. Ou erinnerte sich daran, wie peinlich und unangenehm es für sie war, in Shanghai auf einer belebten Straße zu stehen und an die Fußgänger Werbezettel zu verteilen. Ou hatte auch die Mitschülerin nicht vergessen, die als erste Direktverkäuferin in Kunshan Ou zu Foxconn gebracht hatte. Sie rief Ou an und sprach mit ihr über ihren Kummer. Ou war ehrgeizig und kam mit allem klar. Sie hatte in Kunshan mittlerweile ihr eigenes Direktverkaufsteam aufgebaut. Sie mietete eine Wohnung und hatte ihr eigenes Arbeitszimmer. Alle Mitglieder des Teams kamen von ihrer Produktionslinie bei Foxconn, und sie hatte vierzig bis fünfzig feste Kunden. Die zehn Arbeiterinnen in ihrem Wohnheimzimmer benutzten alle die von ihr verkauften Produkte. Sie hatte bereits die von Perfekt verlangten Mindestverkaufszahlen für DirektverkäuferInnen erreicht. Auf diese Erfahrungen zurückblickend sagte Ou: “Das war ein Prozess der Veränderung, und dieser war schmerzhaft, aber nachher war alles gut.”
Himmlische Träume
Das Arbeitszimmer von Perfekt wurde für Ou und ihre Freundinnen zum Zuhause. An der Wand hing eine Wunschliste mit Herzen, auf denen geschrieben stand, welche Träume sich jede in den nächsten Jahren erfüllen wollte. Ou erträumte sich für dieses Jahr den Aufbau von vier Abteilungen, für das Jahr darauf den Aufstieg in den mittleren Verkäuferrang, und danach wollte sie ein Auto kaufen und in die Heimat zurückfahren. “Ich wollte damals, dass mein Vater am Dorfeingang Feuerwerkskörper knallen lässt, die ganze Strecke bis zu unserem Haus, so wie in dem Wanderarbeiterlied ‘Triumphale Rückkehr in die Heimat’.”
Was erträumte sie sich für die Zukunft? 2015 wollte sie ein Fachgeschäft eröffnen, 2016 ein Haus kaufen und heiraten. Später wollte sie sich in Wuhan niederlassen und hauptsächlich um ihre Kinder kümmern. “Meine Mutter beneidete die Einheimischen von Wuhan. Sie können jeden Tag um sechs Uhr aufstehen und Hand in Hand durch den Park schlendern. Um sieben oder acht Uhr können sie was fürs Frühstück mitbringen und dann im Schaukelstuhl sitzen und sich Luft zufächeln und unterhalten. Abends können sie Wassermelonen essen und fernsehen. Meine Mutter sagte, sie wäre sehr zufrieden, wenn sie das noch erleben dürfte. Sie hatte also zwei Lebensträume: der eine war, im Alter so zu leben, der andere war, zum Tian’anmen-Platz zu fahren und das Hochziehen der Flagge zu sehen, solange sie sich noch bewegen konnte. Ich dachte, das wird doch nicht so schwer sein. Ich kann ihr helfen, das Wirklichkeit werden zu lassen.”
Ou hoffte nicht wie die Mädchen vom Dorf einige Jahre vorher, in Wuhan “einheiraten” zu können. Sie wollte stattdessen ein Wohnung kaufen und sich so in Wuhan “einkaufen”. Ihre gute Freundin hatte einmal, als sie in einem öffentlichen Bus durch die belebten Straßen Shanghais fuhren, gesagt: “Es gibt so viele Straßenlampen in einer solch großen Stadt. Hast du dir mal überlegt, welche davon dir gehört? Es gibt so viele Autos, welches davon gehört dir? Es gibt so viele Hochhäuser, welches Fenster gehört dir?” Jedes dieser Worte traf Ou ins Herz, gab ihr schmerzvolle Stiche, spornte sie aber auch an. Sie wollte unbedingt Erfolg haben und war zuversichtlich, dass sie irgendwann den Himmel stürmen könnte.
Es war an einem Sommertag um die Mittagszeit, und wir saßen in einem Aokeshi-Restaurant und lauschten Ous Geschichte. Es war heiß und stickig, kein kühles Lüftchen regte sich. Der Himmel war wundersam blau. Auf einer Fensterbank des Restaurants saß plötzlich ein Vogel. Niemand hatte ihn kommen sehen. Er hüpfte herum, jenseits vom Fensterglas, und schaute unentschlossen herein. Weit weg waren aschgraue Fabrikgebäude zu sehen. Ous selbstbewusster Gesichtsausdruck passte nicht so recht zur Umgebung. Vielleicht ist es unmöglich, mit anderen über die Strapazen auf dem Perfekt-Weg zu sprechen. Auf QQ schrieb Ou: “Lieber Vogel, sei nicht albern. Niemand schert sich darum, ob es dir schwer fällt zu fliegen, die Leute kümmert nur, wie hoch du fliegst.” Wir wollen dazu sagen: “Lieber Vogel, wir hoffen sehr, dass du frei herumfliegen kannst! ‘Perfekt’ ist allerdings wie ein Fangnetz. Lass dir von ihm keinesfalls deine schönen Flügel zerfetzen”.