Erzählung: Tian Yu und ich

von Su Yihui


[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013. Siehe auch Brief von Tian Yu]

Als ich Tian Yu das erste Mal sah, konnte ich kaum glauben, dass sie Selbstmord begehen wollte. An jenem Nachmittag, als wir die Tür zu ihrem Krankenzimmer aufstießen, war uns mulmig zumute. Drinnen standen lediglich zwei schlichte Krankenbetten. Tian Yu schlief ruhig und friedlich. Ihr Vater und ihre Mutter saßen schweigend daneben und blickten sorgenvoll auf ihre Tochter. Im Raum war so still, dass man Tian Yus Atem hören konnte. Traurigkeit lag in der Luft und legte sich auf alle Fragen, die mir vorher im Kopf herumgegangen waren. Kaum hatte ich eine Frage auf den Lippen, schluckte ich sie wieder runter. Ich brachte nur alle möglichen Förmlichkeiten und tröstende Worte heraus.

Tian Yus Vater ist ein einfacher und ehrlicher Mensch. Er hatte nichts dagegen, dass wir vorbeigekommen waren. Nun erläuterte er uns ihren körperlichen Zustand. Seine Stimme war belegt, und er musste immer wieder seufzen. Tian Yus Mutter saß daneben und sagte keinen Ton. Ab und zu wandte sie sich ab, und schien sich Tränen wegzuwischen. Die Atmosphäre war so bedrückend, dass es uns die Kehle zuschnürte. Wir sprachen aufmerksam und vorsichtig mit Tian Yus Vater, immer darauf achtend, keinen Satz zu sagen, der die Familie verletzen könnte.

Tian Yu wachte auf, vielleicht weil sie unsere Stimmen gehört hatte. Sie rieb sich die Augen. Als sie die Fremden erblickte, zeigte sie keine Angst und lächelte sogar. Ihr strahlendes Lächeln machte uns jedoch nervös. Bevor wir in das Krankenzimmer gekommen waren, hatten wir angenommen, dass Tian Yu sehr traurig oder verzweifelt ist. Ihr Lächeln zeigte uns aber, dass sich diese 17-Jährige nicht von anderen jungen Frauen unterschied. Sie war sogar noch aufrichtiger und direkter als Gleichaltrige. Wir wussten erst nicht, wie wir auf ihr Lächeln reagieren sollten, und fragten sie dann – durcheinander wie wir waren – ob sie etwas Obst essen will. Sie zögerte kurz und nickte dann schüchtern. Sie schaute ruhig zu, wie ich ihr einen Apfel schälte. Als die Apfelschale nach der Hälfte abfiel, lachte sie. Ich führte ihr den Apfel zum Mund, und sie sagte: “Ich esse ein Stück, und du das andere.”

Gegenüber dem Bett stand ein Fernseher. Es lief gerade der Sender aus Hunan mit “Glückliches Camp” (wöchentliche Fernsehshow, Anm. d. Ü.). Tian Yu wurde davon abgelenkt und sagte, dass sie den Schauspieler Zhang Jie mag. Außerdem mochte sie noch Han Geng aus der koreanischen Popgruppe Superjunior. Ich dachte, warum versucht eine solch naive junge Frau sich umzubringen? Sie ist 17 Jahre alt und sollte in Ruhe und Frieden zu Hause vor dem Fernseher sitzen, die Musikvideos von Han Geng anschauen und dabei eine Menge Äpfel essen. Stattdessen liegt sie hier in einem kalten Krankenhausbett in Shenzhen und kann die Hälfte ihres Körpers nichts mehr spüren. Ich schälte ihr einen Apfel, aber diese verständige junge Frau weigerte sich, ihn alleine zu essen, und forderte uns ständig auf, auch was zu probieren.

Warum hatte sie dieses Schicksal auf sich genommen? Am Kopfende von Tian Yus Bett gab es ein kleines Buch mit mutmachenden Geschichten, das ihr die Sozialarbeiterinnen des Krankenhauses gegeben hatten. Wir fragten Tian Yu, ob wir was vorlesen sollten. Sie sagte ja, und suchte sich im Inhaltsverzeichnis einige Geschichten aus. Darunter war eine über einen behinderten jungen Mann, der mit Erfolg alle Schwierigkeiten überwindet. Sie hörte aufmerksam zu. Nach dem Vorlesen drehte sie den Kopf und schaute uns mit ihren unschuldigen Augen fragend an. Den ganzen Nachmittag sagte sie immer wieder “ja ja…”, lachte und machte ein verlegenes Gesicht.

Als wir aus dem Krankenhaus kamen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Mir gingen ihr strahlendes Gesicht und der hilflose Ausdruck ihrer Eltern nicht mehr aus dem Kopf. Wie sollten wir ihnen helfen? Was wir auch tun, sie wird nie wieder aus dem Rollstuhl aufstehen können. Sie ist erst 17 und hat noch viele Jahre vor sich. Ich fühlte tief in mir, wie hilf- und nutzlos ich selbst war. Aber sie lachte trotz allem. Als wir ihr die Geschichte vorlasen, war ihr Gesichtsausdruck noch aufrichtiger als bei anderen jungen Frauen. Wir konnten nicht verstehen, warum ausgerechnet dieser herzlichen jungen Frau solches Leid widerfahren war.

Später besuchten wir sie noch mehrmals. Tian Yu war nicht mehr so schüchtern, sprach immer mehr und lachte weiterhin übers ganze Gesicht. An einem Nachmittag schoben wir sie im Rollstuhl durch den kleinen Park vor dem Krankenhaus. Sie erzählte uns von ihren MitschülerInnen, den Pop- und Filmstars sowie den Blumen und Pflanzen, die sie so mochte. Wenn sie über diese Dinge sprach, war sie gelöst und machte ein glückliches Gesicht. Kam die Rede auf Foxconn, verschwand der gelöste Gesichtsausdruck sofort. Manchmal bezeichnete sie die Arbeit als “langweilig und sinnlos” – das war alles, was sie über den Monat Arbeit bei Foxconn zu sagen hatte. Dann versank sie in langes Schweigen.

Eines Tages erzählte sie uns, wie sie bereits an ihrem zweiten Tag bei Foxconn mit der Arbeit beginnen musste. Foxconn ist zu groß, sodass sie sich verlaufen hatte und zu spät gekommen war. Als wir sie fragten, ob sie wegen des Zuspätkommens beschimpft worden sei, antwortete sie so leise, dass wir sie nicht klar verstehen konnten. Sie war erst 17 Jahre alt und verstand die Welt um sie herum nicht. Sie verstand auch nicht, warum Shenzhen gar nicht so war, wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. Sie wusste nicht, warum es bei Foxconn so viele Menschen gibt, und auch nicht, dass so viele Leute sich nach Produkten der großen Marke Apple die Finger leckten. Tian Yu war wie ein weißes Blatt Papier, das auf Foxconns endlosem Menschenmeer hin- und hertrieb und von “Langeweile und Sinnlosigkeit” begraben wurde.

Wenn ich Tian Yu traf, musste ich oft an meine jüngere Cousine denken. Sie war etwa im gleichen Alter und hatte einen ähnlich klaren Gesichtsausdruck. Die eine atmete auf dem Campus einer Universität in Neuseeland die Luft der Freiheit und genoss die Wärme und den Sonnenschein der südlichen Hemisphäre, die andere befand sich in einer lauten Fabrikhalle und musste Tag für Tag dieselben monotonen Bewegungen ausführen und die Beschimpfungen des Linienführers ertragen. Als wir mit Tian Yu im kleinen Park waren, hob sie ab und zu den Kopf und blickte zum Himmel. In diesen Momenten sah sie immer deprimierter aus. Einmal schaute sie zum Himmel, senkte dann den Kopf, seufzte und sagte: “Ich will nach Hause zurück…” Vorher hatten wir in ihrem Gesicht nie eine solche Traurigkeit gesehen.

Nach einigen Treffen wuchs uns die junge Frau immer mehr ans Herz. Wir konnten nachfühlen, wie sie sich fühlte. Wir hörten genau zu, was sie zu erzählen hatte und erfuhren, welche Empfindungen Foxconn bei ihr ausgelöst hatte: Fremdheit, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Verzweiflung. Viele Medien führten die Foxconn-Tragödie auf eine mentale Schwäche der BauernarbeiterInnen der zweiten Generation zurück. Bei Tian Yu fanden wir keine Spuren dessen. Sie ist eine gutmütige, aufrichtige, feinfühlige junge Frau. Es ist rücksichtslos und grausam, sie als mental schwachen und selbstbezogenen Menschen abzustempeln.

Trotz ihrer Leiden beschwerte sich Tian Yu uns gegenüber nie über Foxconn. Führungskräfte der Firma waren nach dem Unglücksfall nur selten bei ihr aufgetaucht, und später kamen sie nur noch, um die Krankenhausrechnungen zu bezahlen. Tian Yu sprach jedes Mal höflich mit ihnen. In ihrem Gesichtsausdruck konnten wir weder Wut noch Hass ausmachen, obwohl ihr Selbstmordversuch direkt damit zu tun hatte, dass Foxconn ihr keine Lohnkarte gegeben hatte.

Wir waren innerlich sehr aufgewühlt, als wir uns von Tian Yu verabschiedeten. Das Schicksal dieser jungen Frau hatte unser eigenes verändert. Wir werden ihr aufrichtiges Gesicht und ihr strahlendes Lächeln nie vergessen. Diese 17-jährige unerfahrene junge Frau hatte ein schwieriges Leben vor sich. Wie sollte sie die Probleme bewältigen, die vor ihr lagen? Diese Frage klang in unseren Herzen nach und wird uns ewig beschäftigen.

 

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