Erzählung: Xiao – Der studierte Linienführer

von Xu Qingqing


[Erzählung aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013]

Xiao stammt aus einer einfachen Familie in Xi’an, Provinz Shaanxi. Er war das einzige Kind. Seine Eltern bebauten einige karge Felder und brachten Xiao durch die Grundschule, die untere und die obere Mittelschule. Er enttäuscht die Erwartungen an ihn nicht und bestand die Zulassungsprüfung für die Internationale Universität in Xi’an, aber eine Familie wie seine konnte die hohen Studiengebühren nicht aufbringen. Xiao beantragte ein Studiendarlehen. Nach den Bestimmungen der Hochschule muss das Darlehen innerhalb von drei Jahren nach Studienabschluss zurückgezahlt werden, erst dann wird das Abschlusszeugnis ausgehändigt. Um das Zeugnis möglichst schnell zu erhalten, suchte Xiao eine feste Arbeit, aber nach Abschluss des Studiums gründete er mit einigen ehemaligen Kommilitonen ein Geschäft.

Er nahm das wenige gesparte Geld seiner Familie und mietete mit seinen Partnern für ihre Dekorationsfirma eine Werkstatt im Ort. In der Firma arbeiteten nur sieben oder acht Leute. Jeden Tag fuhren sie durch die Gegend und suchten händeringend nach kooperationswilligen Firmen, aber sie rannten wieder und wieder gegen die Wand. Aufgrund ihrer geringen Erfahrung, gab es Probleme mit der Werbung, und sie waren auch nicht in der Lage, Fachkräfte einzustellen. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen und es war immer zu wenig Geld da. Xiaos neu gegründetes Unternehmen stand kurz vor der Insolvenz, und er entschloss sich ohne langes Aufbäumen, aus der Firma auszusteigen und nicht wieder zu versuchen, ein eigenes Unternehmens zu führen. Ihm blieben 20.000 bis 30.000 Yuan an Schulden.

Die Wanderung endet bei Foxconn

Xiao war klar, dass die Familie nicht genug Geld hatte, um ihn weiter zu unterstützen. Es blieb ihm nur mehr die Wahl, seine Heimat Xi’an zu verlassen und in den fernen Süden zu gehen, da es dort mehr Möglichkeiten gab, Arbeit zu finden. Sein Blick fiel zunächst auf die wirtschaftlich am weitesten entwickelte Stadt, Shanghai. Er war schon früher im Rahmen eines Studienpraktikums dort gewesen und hatte die Atmosphäre in der Firma gemocht.

Mit 2.000 Yuan und ehrgeizigen Träumen in der Tasche kam er allein nach Shanghai und suchte eine Unterkunft. Es war aber alles nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Abends stieg er in einem einfachen und düsteren Hotel ab, das 50 Yuan pro Nacht kostete. Tagsüber lief Xiao in Shanghai von einer Firma zu nächsten und fragte nach Arbeit. Eine Woche verging, ohne jeden Erfolg. Wo es nur ging, sparte er sich das Frühstück. Wenn er hungrig wurde, kaufte er sich am Straßenrand zwei Dampfbrötchen. Mittags aß er meistens nur eine Schüssel einfacher Nudeln, und abends nahm er nur selten eine richtige Mahlzeit zu sich. Jeden Abend lief er die belebten Straßen Shanghais hinunter und beobachtete die gut und fesch gekleideten Menschen. Er fragte sich, wie es sein konnte, dass er in dieser großen Stadt keinen passenden Platz für sich finden konnte. Er fühlte sich allein und verlassen, und fing das erste Mal in seinem Leben mit dem Rauchen an, um die Gefühle von Einsamkeit und Verlorenheit zu betäuben. Sein Geldbeutel leerte sich, aber es war keine Arbeit in Sicht. An dem Punkt nahm er Kontakt zu einem ehemaligen Mitschüler auf, der bei Foxconn in Kunshan arbeitete. Dort würden saisonbedingt Leute eingestellt, und Xiao könnte hinfahren und es versuchen. Xiao war es wie ein Griff nach dem rettenden Strohhalm.

Am nächsten Morgen saß er im Zug nach Kunshan. Dort angekommen, hatte er gerade noch 200 bis 300 Yuan. Er mietete sich ein Zimmer für zwanzig Yuan am Tag und blieb eine Woche dort. An einem Tag entdeckte er am Straßenrand eine Stellenanzeige von Foxconn. Er war skeptisch, nahm aber seinen Personalausweis und registrierte sich. Er kaufte sich auch ein gefälschtes Fachschuldiplom.

Xiao hatte gehört, dass Foxconn allseits bekannt ist, ansonsten wusste er nichts über die Firma, nicht mal was sie herstellt. Er erinnerte sich: “Entscheidend war, dass ich kein Geld hatte. Essen kaufen, Miete bezahlen, all das wurde zum Problem. Ich konnte keine Arbeit finden und hatte nur noch 200 bis 300 Yuan… Ich dachte, egal wie, ich muss erst einmal wieder richtig was essen… Hauptsache, ich muss mir um Essen und Unterkunft keine Sorgen mehr machen.” So fing Xiao im Oktober 2009 bei Foxconn zu arbeiten an. Er wurde der Fuhong CMCNBC-Abteilung zugewiesen und vor allem in der Montage eingesetzt.

Aufstieg zum Linienführer

Nachdem er eine Zeit lang an der Produktionslinie gearbeitet hatte, fühlte sich Xiao psychisch und physisch erschöpft. Dazu kam der Druck des Linienführers. Wenn er etwas falsch machte, wurde er heftig beschimpft. Im Wohnheim konnte er auch keine Ruhe finden. Einige seiner MitbewohnerInnen hatten Tagesschicht, andere Nachtschicht, sodass er nie wusste, ob er schlafen konnte oder nicht. Fortwährend beschwerte sich Xiao: “Anfangs mussten wir jeden Samstag und jeden Sonntag Überstunden machen. Es war verdammt anstrengend. In zwei Monaten hatten wir nur einen Tag frei!” Trotz der Überstunden verdiente er nur etwas über 1.000 Yuan im Monat, und Xiao wurde langsam klar, dass er das nicht mehr lange aushalten würde. “Dann warte ich doch noch länger auf mein Abschlusszeugnis. Einen so harten Job kann ich in keinem Fall weitermachen.” Nach dem Jahreswechsel wollte Xiao weg, aber er war weiterhin zu unentschlossen. Das Kündigungsschreiben war schon fertig geschrieben, aber bis heute hat er es nicht abgeschickt. Xiao hielt es für ungerecht, dass er mit anderen zusammen arbeitete, die nur die untere Mittelschule oder eine Fachschule abgeschlossen hatten. Das machte doch keinen Sinn. Waren die vier Jahre auf der Universität ganz umsonst gewesen? Xiao fragte sich aber auch, wo er ohne Abschlussdiplom hingehen und wie er eine bessere Arbeit finden sollte. Er seufzte: “Foxconn hat mich in meiner schwierigsten Zeit eingestellt. Klar, die Arbeit ist hart, aber wenigstens muss ich mir um Essen und Unterkunft keine Sorgen mehr machen.” Zu der Zeit wollte ihn der Linienführer außerdem zum Maschinenführer befördern. Xiao zögerte, überlegte es sich einen Monat lang und entschied dann nicht fortzugehen. Seiner Meinung nach, haben die Maschinenführer den anstrengendsten Job. “Sie müssen für die Leute einspringen, die nicht zur Arbeit kommen, sie organisieren den Arbeitsablauf an der Linien, kümmern sich um die Maschinen, halten die Papiere in Ordnung… Alles was der Linienführer macht, macht der Techniker auch. Der Linienführer hat außerdem noch die Aufgabe, zu den Linienführerversammlungen zu gehen, das ist alles.” Die Arbeit war zwar anstrengend, aber es war der einzige Weg nach oben. Xiao blieb also dran. Später fragte der Gruppenleiter bei einer der Morgenversammlungen, ob jemand Ideen hat, wie die Arbeitsproduktivität zu erhöhen ist. Im richtigen Moment meldete sich Xiao zu Wort und stellte ihnen klar und strukturiert seine Sicht der Dinge vor. So wurde der Gruppenleiter auf ihn aufmerksam und erfuhr von seinem Universitätsdiplom. Xiao begann, sich mehr von der Zukunft bei Foxconn zu versprechen. Als wir ihn einen Monat später wiedertrafen, war er bereits zum Linienführer befördert worden.

Die Produktionsziele

Der Ablauf zur Erreichung der Produktionsziele ist bei Foxconn streng geregelt. Wenn die Produktionsleitung einen Auftrag erhält, werden jeder Produktionslinie dem Auftrag und ihren Kapazitäten entsprechend Produktionsvorgaben zugeteilt. Diese werden den Abteilungsleitern und anderen Verantwortlichen übergeben, die sie mit ihrer Unterschrift bestätigen. Die Linienführer machen sich dann mit den Produktionsvorgaben an die Arbeit. Xiao erläuterte: “Der Abteilungsleiter regelt die Aufträge und die Auslieferung. Wenn nachmittags um drei Uhr eine Lieferung fertig sein muss, kommt er ständig vorbei und drängt uns, schneller zu arbeiten.” Obwohl Xiao nun zum Linienführer aufgestiegen war, standen ihm immer noch die Sorgen ins Gesicht geschrieben. Er erzählte uns von der Mühsal der Linienführer. “Wie soll ich das Fließband organisieren und die Vorgaben innerhalb einer Woche schaffen, welche Produkte sollen hergestellt werden – die Produktionsorganisation bringt viel Arbeit mit sich, und es ist vorgegeben, was jeden Tag zu tun ist… Anfangs war das sehr anstrengend. Schon am Vorabend dachte ich darüber nach, welche Produkte am nächsten Tag hergestellt werden, was ich vorbereiten muss, wen ich an welchem Arbeitsplatz einsetzen soll, und was dann dort zu machen ist.” Er musste jeden Morgen einen detaillierten Plan vorlegen. “Morgens findet von 7:40 Uhr bis 7:50 oder 8:00 Uhr eine Versammlung statt. Dort müssen wir den ArbeiterInnen sagen, welche Produkte an dem Tag hergestellt werden, auf was aufgepasst werden muss und welche Dinge zu vermeiden sind. Danach werden die Produktionsvorgaben genannt. Um 8:00 Uhr wird dann die Produktionslinie offiziell in Bewegung gesetzt.”

Xiao hing sich zwar voll rein, aber in den ersten Tagen blieb die Produktionsleistung dennoch niedrig. Auf der Linienführerversammlung musste er jeden Tag Selbstkritik üben. “Die Vorgesetzten verlangten ein Erklärung, warum die Produktionsvorgaben nicht erreicht wurden. Dann sagten sie, wie das zu verbessern und was zu vermeiden ist.” Xiao spürte, wie der Druck immer größer wurde. Produktionsleistung und -ziele drängten sich fast jede Nacht in seinen Schlaf und verursachten Alpträume.

Vorgesetzten ist unbedingt Gehorsam zu leisten

Xiao hat die von Foxconn betriebene “humane Betriebsführung” nie richtig verstanden. Empört berichtete er uns: “Jeden Tag propagieren sie die humane Betriebsführung. Ich weiß nicht, worin das Humane bestehen soll.” Die ArbeiterInnen mussten dem Linienführer gehorchen, die wiederum den Weisungen des Gruppenleiters Folge zu leisten hatten. Die Gruppenleiter mussten auf die Abteilungsleiter hören. Den Vorgesetzten gegenüber galt absoluter Gehorsam, ohne Wenn und Aber. Ein dazu passendes Zitat von Generaldirektor Terry Gou hing an der Wand: “Außerhalb des Labors gibt es kein Hi-Tech, sondern nur Gehorsam und Disziplin.”

Seit er Linienführer ist, lebt Xiao in Angst. Er ist vorsichtig, weil er befürchtet, Fehler zu machen und Vorgesetzte zu verärgern. Ein Vorfall spielte sich direkt vor seinen Augen ab: Zwei Studierte, die 2002 – also zur selben Zeit wie ich – bei Foxconn angefangen hatten, waren beide Teil der Führungsreserve. Einer von beiden war relativ gut qualifiziert, blieb aber ein normaler Mitarbeiter, während der andere bis zum Abteilungsleiter aufstieg. Xiao erläuterte: “Er war zu direkt, wenn er mit Leuten sprach. Einmal hat er einem Direktor widersprochen. Das war eine Lappalie, und der Direktor kann dich vor so vielen Leuten nicht einfach rausschmeißen, er muss sich tolerant geben. In der Folgezeit gibt er dir bei der Arbeit aber keine Chance mehr und sieht zu, dass du dich da unten abplagst. Wenn du Talent hast, darfst du für sie arbeiten, aber sie geben dir keine wichtigen Aufgaben, weil sie befürchten, dass du dann mit ihnen konkurrierst!” Xiao hatte daraus seine Lehren gezogen und seinen Stolz und seine Haltung als Studierter aufgegeben. Er ist schließlich herabgesunken auf den Status derer, die alles abnicken.

In der Zwischenzeit war eine neue Abteilungsleiterin bestimmt worden, die Xiao unerträglich fand. Sie kontrollierte jeden Tag die von den Produktionslinien gemeldeten Ausschussmengen und bestand auf klaren und detaillierten Berichten. “Sie bereitete uns täglich große Kopfschmerzen und brachte den ganzen Betrieb durcheinander. Vorher war es so, dass man alle Formulare benutzen und sich selber herausreißen konnte. Sie verlangt nun, dass jeden Tag nur noch ein Formular benutzt wird, und wenn man was falsch ausfüllt, muss man damit zu ihr. Sie machte so stark Druck, dass ihre Untergebenen in Panik gerieten.

Xiao machte ein empörtes Gesicht: “Sie zeigte mir jeden Tag ein Berichtsformular und erklärte: ‘Dieser Bericht ist detaillierter und besser geschrieben.’ Ich fragte sie, ob es auch wichtige Sachen zu tun gebe. Den ganzen Tag regte sie sich über Nichtigkeiten auf… Sie erzählte mir jeden Tag was von Leistung, Ausführung und Geschwindigkeit. Sie sprach sogar an, dass unsere Besprechungen nur mehr 10 Minuten dauern, obwohl wir uns früher immer 30 Minuten Zeit genommen hatten! Ja nützen wir doch die gewonnene Zeit, um die da unten auf die Einhaltung der Produktqualität hinzuweisen! Wie kann man so viel Zeit für Kleinigkeiten verschwenden?!” Uns gegenüber traute sich Xiao, solche Beschwerden zu äußern, zurück in der Fabrik musste er wieder den aktiven Mitarbeiter mimen, der tut, was die Vorgesetzten verlangen. Er erlaubte sich nicht die geringste Nachlässigkeit. Es gilt das eherne Gesetz, dass Vorgesetzte, selbst wenn sie Durcheinander stiften, immer Recht haben und ihren Anweisungen in jedem Fall Folge zu leisten ist.

Ich will weiter aufsteigen

Xiao konnte das alles kaum ertragen, aber er träumte von einem hohen Lohn und nahm deswegen alles stillschweigend hin: “Ich denke, ich werde drei bis fünf Monate auf dem Posten des Linienführers bleiben und dann langsam weiter aufsteigen. Bevor ich nach Huai’an versetzt werde, möchte ich leitender Angestellter ersten Ranges werden. Dann verdiene ich 3.000 bis 4.000 Yuan im Monat. Wenn ich später noch zum Gruppenleiter befördert werde, dann ist alles gut.” Xiao versuchte uns zu überzeugen, dass sein Ziele niedrig gesteckt und leicht zu erreichen sind. Er hatte zwar den Rang eines Linienführers, bekam aber nur den Lohn eines Maschinenführers, weil er “unqualifiziert war”. Er meinte, dass es an vielen Linien ähnlich war. In der auftragsstarken Zeit konnte er etwa 2.000 Yuan verdienen, in der auftragsschwachen nur etwa 1.200 oder 1.300 Yuan. Ihm war auch bewusst, dass es bei Foxconn nicht einfach ist aufzusteigen. Vom Mitarbeiter ersten Ranges zum Mitarbeiter zweiten Ranges braucht man ein Jahr, dasselbe dann zum Mitarbeiter dritten Ranges. Für Beförderungen auf die Führungsebene braucht man jeweils zwischen einem und anderthalb Jahren. Zusammengerechnet dauert der Aufstieg zum Gruppenleiter etwa sechs Jahre.

Auf seine Zukunft angesprochen, strahlte Xiao über das ganze Gesicht: “Wahrscheinlich arbeite ich weiter hier… Nach drei bis fünf Jahren habe ich vielleicht die Möglichkeit, mir eine Wohnung zu suchen. Die ist dann neuer als die alte in Xi’an, und meine Eltern können da wohnen. Nach zwanzig bis dreißig Jahren kann ich dann in Rente gehen und nach Xi’an zurückkehren.” Wie groß wird der Unterschied zwischen seinem Traum und der Wirklichkeit sein?

 

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