von Pun Ngai und Lu Huilin
[Beitrag aus der chinesischen Fassung des Buches von Pun Ngai, Lu Huilin, Guo Yuhua, Shen Yuan: iSlaves. Ausbeutung und Widerstand in Chinas Foxconn-Fabriken. Wien, 2013. Der Text ist auch in der PDF-Broschüre iSlaves – Weitere Texte dokumentiert.]
Die gegenwärtige Herausbildung eines chinesischen Monopolkapitals zieht die chinesische Version der Einhegungen von der psychischen auf die physische Ebene. Die sogenannte psychische Einhegung folgt einer besonderen geschichtlichen Entwicklung, die zu besonderen Ergebnissen geführt hat: der “Semi-Proletarisierung” der BauernarbeiterInnen in China.1 Die Selbstmordserie der Foxconn-ArbeiterInnen im Jahr 2010 hat diese Bewegung auf die Spitze getrieben.
Vom beruflichen Status her sind die BauernarbeiterInnen städtische IndustriearbeiterInnen, ihrem sozialen Status nach sind sie aber immer noch Bauern und Bäuerinnen. Ihre berufliche Laufbahn und ihr Selbstverständnis waren von Anfang an von ihrer Wurzellosigkeit und der ständigen Wanderschaft geprägt. Ihr Traum vom Status einer städtischen Industriearbeiterin bleibt unerreichbar. Trotz allem ist die neue Generation der WanderarbeiterInnen nicht gewillt, umzukehren und zurückzugehen. Sie alle haben noch ein Stück Land, dass vom Mainstream der Wirtschafts- und SozialwissenschaftlerInnen als “Land zur sozialen Absicherung” bezeichnet wird. Dieser Begriff hat jedoch lediglich die Funktion, all die Irrationalitäten zu legitimieren, die mit der Verwendung von BauernarbeiterInnen als billige Arbeitskräfte der “Weltmarktfabriken” verbunden sind. In Wirklichkeit dient das Stück Land schon lange nicht mehr als grundlegende soziale Absicherung. Nach Aussage vieler Bauern und Bäuerinnen wirft das Land nur “zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben” ab. Ihre “Freiheit” besteht darin, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als zum Überleben Haus und Hof zu verlassen und zur Arbeit in die Städte zu ziehen. Diesem Schicksal kann sich gerade die neue Generation der BauernarbeiterInnen nicht entziehen. Einige von ihnen entscheiden sich zu streiken andere dafür, ihrem Leben ein Ende zu setzen – als Reaktion auf die Traumatisierung, der sie in unser Zeit ausgesetzt werden. So verstehen wir die “chinesische Form der psychischen Einhegung”.
Das Foxconn-Imperium versucht, durch einen kapitalistischen Unternehmergeist und ein paramilitärisches Fabriksystem mit den “psychisch eingehegten” BauernarbeiterInnen fertig zu werden, scheitert aber auf ganzer Linie. Foxconn will sich in China nicht nur als Industriegigant durchsetzen, sondern auch einen die Kapitalakkumulation begünstigenden unternehmerischen Geist etablieren. Den ArbeiterInnen soll ein die harte Arbeit hochhaltender, kapitalistischer Geist eingetrichtert werden. “Erwachsen werden bedeutet Schmerz”, “Im betrieblichen Leben gibt es drei
Teile: Menschliches Material → menschliches Talent → menschlicher Reichtum”.2 Dies sind einige der mehr als hundert ähnlichen Zitate Terry Gous, die den Kern dieses kapitalistischen Geistes wiedergeben. Paradoxerweise kann dieser kapitalistische Geist jedoch lediglich das Verlangen der Unternehmer und der lokalen Behörden nach wirtschaftlicher Entwicklung stimulieren, auf die ArbeiterInnen hat er dagegen so gut wie keinen Einfluss. Die ArbeiterInnen haben den Unternehmergeist Foxconns nicht nur nicht verinnerlicht, sie leisten diesem heuchlerischen Geist auch auf alle möglichen Arten Widerstand.
Wenn es auf die weiche Art nicht funktioniert, dann eben mit Härte. Foxconn will mit seinem pyramidenförmigen Managementsystem die ArbeiterInnen kontrollieren. Das tayloristische Produktionssystem mit seinem enormen Druck soll das Maximum aus den Arbeitskräften herausholen. Das ist aber noch nicht alles. Foxconn verlängert die Fließbänder der Produktionshallen in den Lebensraum der ArbeiterInnen. Die paramilitärischen Managementmethoden finden auch in den Unterkünften, Kantinen und anderen Dienstleistungsbereichen Anwendung. So versucht Foxconn, die
ArbeiterInnen umfassend und an allen Orten zu überwachen und zu disziplinieren. Das ist aber nicht vollständig durchzusetzen. Die ArbeiterInnen lassen sich nicht ständig kontrollieren, und zudem verlieren sie jedes Gefühl für die Sinnhaftigkeit der Arbeit und des Lebens. Foxconn hofft, die Emotionalität der ArbeiterInnen durch ein ausgeklügeltes Produktions- und Managementsystem so abzubauen, dass diese zu gefühllosen Hochleistungsmaschinen werden, welchen Tag und Nacht Arbeitswert abgepresst werden kann. Das allerdings bleibt eine kapitalistische Wunschvorstellung.
Die Selbstmordserie von Foxconn-ArbeiterInnen war eine extreme Form des Widerstandes gegen die Disziplinierung des Kapitals. Eine größere Zahl von ArbeiterInnen entscheidet sich für die “Abstimmung mit den Füßen”. Wenn sie mit der Arbeit unzufrieden sind, kündigen sie oft nach einem halben Jahr – eine stille Ablehnung des für sie von Terry Gou vorgesehenen “wunderschönen Traums”. Außerdem greifen ArbeiterInnen täglich auf verschiedene Formen des individuellen und kollektiven Widerstands zurück. Anfang 2011 warfen zum Beispiel ArbeiterInnen nachts Flaschen aus einem Wohnheim Foxconns in Chengdu. Zwar stellten sie keine klaren Forderungen an die Fabrikleitung, aber hinter diesem “grundlosen” Verhalten steht eine tiefe Unzufriedenheit.
Das Foxconn’sche Entwicklungsmodell einer “globalen Fabrik” kann den “psychisch eingehegten” BauernarbeiterInnen jedoch keinen Ausweg bieten, und darüber hinaus beginnt mit der enormen Expansion des Monopolkapitals eine neue Phase der physischen Einhegung in China. Ab 2007 bemühten sich die Behörden von Chongqing um Foxconn, und nachdem sie etliche Vergünstigungen zugesagt hatten, bekamen sie den Zuschlag. Bis Januar 2010 wurden zehn Dörfer zerstört, und die Erschließung von 13,3 Quadratkilometer Land im Mikroelektronik-Park Xiyong war abgeschlossen. Die gesamte Planfläche umfasst 30 Quadratkilometer, deswegen ist zu erwarten, dass noch viel mehr Dörfer zerstört werden. Im Mai 2010 nahm Foxconn offiziell die Produktion im Mikroelektronik-Park auf. Dort
arbeiteten zwar zunächst nur 10.000 Beschäftigte, aber Foxconn zeigte den Weg und versprach hohes Wirtschaftswachstum und gute Aussichten für die Exportindustrie in Chongqing. Hier nahm das
riesige Foxconn-Imperium in Chinas Westen langsam Gestalt an, während die betroffenen Bauern und Bäuerinnen der Dörfer eine nach der anderen ihre Heimat und ihren Lebensunterhalt verloren.
Am 14. März 2011 kamen wir in den Stadtteil Laojie von Xiyong in der Nähe von Foxconns Fabrikkomplex in Chongqing. Dort lebten viele DorfbewohnerInnen, die nach dem Abriss ihrer Häuser auf die
Umsiedlung warteten. Wir hofften, mehr über die Lebensbedingungen der DorfbewohnerInnen nach dem Abriss zu erfahren. Kaum hatten wir einen am Straßenrand sitzenden Dörfler auf die Zwangsenteignung angesprochen, versammelten sich – für uns unerwartet – dreißig Leute um uns herum und klagten eine nach der anderen über das Unrecht, das ihnen widerfahren war. Die meisten von
ihnen kamen aus den Dörfern Xiyong und Langui. Ihre Häuser und ihr Land waren schon vor mehr als drei Jahren enteignet worden. Eine vierköpfige Familie erhielt im Schnitt eine Entschädigung für das Land und eine Umsiedlungsbeihilfe von insgesamt 220.000 Yuan. Die Entschädigung für den Hausabriss war unterschiedlich hoch und hing von der Größe des Hauses ab. Im Durchschnitt lag sie bei 40.000 bis 50.000 Yuan. Nach dem Kauf einer Rentenversicherung (20.500 Yuan pro Person) und eines Ersatzwohnraums (etwa 800 Yuan pro Quadratmeter Wohnfläche) blieb von diesem Geld nur wenig übrig. Die Häuser waren bereits vor drei Jahren abgerissen worden, aber die Umsiedlung in den Ersatzwohnraum war immer noch nicht geregelt. Den DorfbewohnerInnen war nichts anderes übrig geblieben, als sich außerhalb Wohnungen zu suchen. Die Mieten waren jedes Jahr gestiegen. 2011 kostete eine Wohnung in Laojie fast 10.000 Yuan pro Jahr. Auch die anderen Lebenshaltungskosten waren deutlich gestiegen, sodass viele Dörfler nach drei Jahren die Entschädigung für die Zwangsenteignung schon fast vollständig ausgegeben hatten.
Einige Familien hatten nicht die finanziellen Mittel, um die Mieten in Laojie zu bezahlen und waren in das bereits von Bulldozern plattgewalzte Dorf zurückgezogen. Sie wohnten in einfachen Hütten, die sie auf den Ruinen errichtet hatten. In die engen und dunklen Räume zwängten sich jeweils mehrere Familienmitglieder. Da Strom und Wasser bereits abgestellt waren, mussten sie Kerosin-Lampen benutzen und Wasser aus dem Dorfteich holen. Mit Wellpappe hatten sie den Ort abgedeckt, der als Toilette diente. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatten sie damit begannen, auf den bereits verlassenen Feldern wieder Gemüse anzubauen und auf dem Markt von Laojie zu verkaufen. Das Leben war hart. Die betrübten Dörfler erzählten uns, dass sie sich vor der
Enteignung einen gewissen Wohlstand erarbeitet hatten. Sie hatten Haus und Hof besessen und mit einem Gemüsefeld von einem Mu (0,07 Hektar) fast 10.000 Yuan verdient. Jede Familie hatte ein
zweistöckiges, sauber und ordentlich hergerichtetes Haus gehabt. Jetzt waren sie in dieser schwierigen Situation und sahen aus wie verarmte Leute.
Anfang März 2011 wussten die Dörfler nicht mehr ein noch aus. Sie bestimmten fünf Frauen, die nach Beijing fahren und eine Petition einreichen sollten. Diese versteckten sich vor den örtlichen Behörden, die versuchten, sie am Bahnhof und anderen Orten abzufangen, und übergaben schließlich ihre Petition am Ministerium für Land und Ressourcen. Sie wollten den Zentralbehörden die Gesetzesverstöße während der Zwangsenteignungen in Xiyong deutlich machen, darunter 1. die ungenügenden Entschädigungszahlungen für die enteigneten Flächen; 2. die teilweise Unterschlagung der Umsiedlungsbeihilfe und -entschädigung bei ihrer Einzahlung in die Rentenversicherung; 3. die Unterschlagung und Zurückhaltung der Sozialhilfe, die den nach der Enteignung von einem
ländlichen zu einem städtischen hukou Wechselnden versprochen worden war; und 4. die Unterschlagung der Umsiedlungsbeihilfe für die zwei Jahre Übergangszeit (120 Yuan pro Person pro Monat). Die fünf Frauen wurden jedoch “unter Geleitschutz” nach Chongqing zurückgebracht und mehrere Tage inhaftiert. Die betroffenen Frauen brachen in Tränen aus, als sie uns davon erzählten.
Hinter jeder Ausweitung von Fabrikzonen wie im im Falle Foxconns stehen ähnliche traurige Geschichten wie die aus Xiyong. Die physische Einhegung in China hat wundersame Auswirkungen auf die
rasante Akkumulation des transnationalen Kapitals und ebnet gleichzeitig den Weg zur vollständigen Proletarisierung der BauernarbeiterInnen. Es bildet sich ein Proletariat, das Hof und Land verloren hat und seinen Lebensunterhalt nur noch mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft bestreiten kann. Die Bauern und Bäuerinnen mittleren Alters, die ihre Produktionsmittel und Lebensgrundlagen verloren, haben jedoch keine Möglichkeit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Foxconn lässt sie vor der Tür stehen.
Die rasche Expansion des Foxconn-Imperiums und das integrierte Entwicklungsmodell der Städte und Gemeinden haben zur Einhegung in China geführt und treiben sie voran. Wir müssen festhalten, dass es zwischen den mit dem zwölften Jahresplan (2011-15) verfolgten Veränderungen des ökonomischen Entwicklungsmodells und der tatsächlichen lokalen Wirtschaftsentwicklung weiterhin große Unterschiede geben wird. Die realen Kämpfe führen kaum zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern und Bäuerinnen, vielmehr führt das Kapital sie an der Nase herum und stellt sie vor das Dilemma der Einhegung.
Fußnoten
1 Zu diesen Prozessen und Begriffen siehe: Pun Ngai, Lu Huilin: Unvollendete Proletarisierung – Das Selbst, die Wut und die Klassenaktionen der zweiten Generation von BauernarbeiterInnen im heutigen China, Sozial.Geschichte Online 4 (2010), S. 36–69, online unter: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-26032/05_Pun_Lu_China.pdf (Anm. d. Ü.)
2 Im Chinesischen ist das ein Wortspiel, da die Bezeichnung aller drei Phasen gleich klingt: ren cai, ren cai, ren cai. (Anm. d. Ü.)