[Erzählung aus Hao Ren u.a.: Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Wien, 2014. Interview vom 16. Juni 2011; Teil II – Kämpfe gegen Lohnsenkungen – StreikanführerInnen]
Ich bin Jahrgang 1984 und blieb nach Abschluss der oberen Mittelschule einige Jahre zu Hause. Danach machte ich mich selbständig, was aber scheiterte, unter anderem weil ich zu wenig über die Menschen und die Gesellschaft wusste. Schließlich zog ich los, um Arbeit zu suchen. Im Mai und Juni 2010 waren nacheinander mehrere ArbeiterInnen von den Gebäuden einer Elektronikfabrik in den Tod gesprungen. Ich wollte dort arbeiten, um herauszufinden, was wirklich dahintersteht. Den vielen Medienberichten schenkte ich keinen Glauben. Große Unternehmen konnten die Selbstmordserie propagandistisch nutzen, um sich im intensiven Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Im Juli 2010 stellte mich die Elektronikfirma auf Vermittlung einer Freundin ein. Im Vergleich zu den sechs Fabriken, in denen ich später arbeitete, war sie noch die humanste. Die Firmenleitung verhielt sich nicht so kalt und grausam, wie das von außen dargestellt wurde. Möglicherweise hatte sie sich unter dem Eindruck der Selbstmordserie verändert. Meinem Eindruck nach wurden die Beschäftigen nicht militärisch gedrillt und die allgemeine Betreuung war wesentlich besser als in anderen Firmen. Das Essen, die Kleidung, das Wohnen, all diese Aspekte entsprachen nicht dem, was über die Firma verbreitet wurde. Zum Beispiel verfügten die ProduktionsarbeiterInnen über eine Krankenversicherung. Wenn deren Limit überschritten war, sprang eine Versicherung des Unternehmens ein. Im Grunde mussten die ProduktionsarbeiterInnen keinen Fen zahlen. Die Firma schuf zudem in der Kantine einen besonderen Bereich für Schwangere, der wie ein Restaurant gestaltet war. Der Raum war angenehm, und es wurde seichte Musik gespielt. Solche Sachen fand ich richtig gut.
Etwa zwei Monate mit je 22 Arbeitstagen arbeitete ich in der Firma als Forschungstechniker in der Entwicklung von Leiterplatten. Die Fabrik produzierte Teile für Handys und Tablets von Apple und Nokia. Monatlich bekam ich 5.000 Yuan, ich weiß jedoch nicht, wie der Lohn berechnet wurde. Es gab viele Ingenieure dort, aber nur wenige bildeten den Kern von Spezialisten, die Forschungsprogramme auflegen konnten. Meine Aufgabe war es, den Ablauf eines solchen Programms zu begleiten, von der Entwicklung im Labor bis zur Produktion des Endproduktes. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Beschäftigten in meiner Abteilung stark unter Druck standen, nicht reden oder sich nicht bewegen durften. Die meisten arbeiteten an Maschinen und mussten lediglich Leiterplatten in diese einlegen. Wenn zwei ArbeiterInnen sich gegenüber saßen, mussten sie nur absprechen, wer aufpasst, und die andere konnte dann Pause machen. Im Grunde gab es auch keine festen Produktionsvorgaben. Wenn du an einem Tag mehr produziert hattest als vorgegeben, bekamst du eine Prämie, lagst du drunter, wurdest du jedoch nicht bestraft. Vorher hatte ich gehört, dass der Werkschutz Leute zu Tode prügelte und man nur fünf Minuten für den Gang auf die Toilette hatte, ich bekam jedoch nichts dergleichen mit. Manche waren zwei Stunden lang auf der Toilette, und niemand sagte was. Die vielen Abteilungen waren jedoch verschieden. Manche waren in hohem Maße mechanisiert. Ich sah Poliermaschinen, Apparate zum Testen und Belichter, mit denen Blaupausen auf Kupferplatten übertragen wurden. Wenn in meiner Abteilung für Forschung und Entwicklung eine Leiterplatte entwickelt war, ging sie in die Produktion. Dort war der gesamte Herstellungsprozess mechanisiert. Der letzte Schritt, den ich verfolgen musste, war das Testen der Leiterplatten auf Einhaltung der Norm. Die Manager machten den Beschäftigten bestimmte Vorgaben. Neueingestellten gaben sie jedoch ein paar Tage Zeit, damit sie sich mit den Anlagen vertraut machen konnten. Wie auch immer, hier standen die Beschäftigten etwas mehr unter Druck.
Ich fand kaum jemand mit demselben Grundlohn, was ich jedoch nachvollziehen kann. Der erste Eindruck, den du auf einen Manager machst, ist entscheidend für deine Bewertung. Das ist doch fair. Nehmen wir ein Beispiel: An einem Tag werden zehn Leute eingestellt und der Manager erzählt allen, dass sie sich innerhalb einiger Tage mit der Arbeit an den Maschinen vertraut machen können. Er macht Vorgaben und sagt, dass sie diese erreichen werden, wenn sie in den nächsten Tagen die Maschinen studieren und viel von ihrem Meister oder Vorarbeiter lernen. Nachher wird der Grundlohn für den nächsten Monat unterschiedlich ausfallen. Wenn er ursprünglich bei 1.500 Yuan lag, werden nun manche 1.520, andere 1.530, 1.550 oder gar 1.600 Yuan bekommen. In dieser Fabrik wurden die Grundlöhne entsprechend von den direkten Vorgesetzten festgelegt. Über Lohnerhöhungen entschieden nicht die oberen, sondern die unteren Führungskräfte. Nur sie wussten, was wirklich vor sich ging, und meldeten das an die jeweils nächsthöhere Ebene.
Ich wohnte nicht im Wohnheim, sondern außerhalb in einem anderen Bezirk. Jeden Tag fuhr ich mit dem öffentlichen Bus nach Hause und konnte so nach Feierabend kaum mit den KollegInnen über die Arbeit oder technische Probleme sprechen. Davon bekam ich sowieso nur Kopfschmerzen, also ging ich dem aus dem Weg. Diese technischen Dinge waren nicht mein Gebiet. Während der Arbeit fragte ich andere schon um Rat, aber nach Feierabend beeilte ich mich, nach Hause zu kommen. Andere KollegInnen hatten für diese Sachen ihre Arbeitsgruppe. Der hochbezahlte leitende Ingenieur ließ sich nur selten herab, dir technische Fragen zu erläutern, vor allem wenn man kein besonders gutes Verhältnis zu ihm hatte. Er wollte wohl seine Position und seinen Job verteidigen. Über Alltagsfragen sprach er dagegen häufiger. Die Angestellten blieben sich gegenseitig irgendwie fremd, hasteten sie doch nach der Arbeit alle aus dem Büro. Die Fluktuation war hoch, und private Freundschaften entstanden nur selten. In unserer Forschungsabteilung waren zum Beispiel dreizehn Personen beschäftigt. Viele arbeiteten etwa zwei Jahre in der Firma und wurden dann durch andere ersetzt. Da sie sich durch die Mitarbeit in dieser Abteilung besondere Qualifikationen aneigneten, konnten sie danach einfach die Firma wechseln oder sich selbständig machen. Ein Kollege von mir ist zum Beispiel stellvertretender Geschäftsführer eines Online-Shops in Shenzhen geworden und arbeitet an der Entwicklung der Verkaufssoftware mit. In der Elektronikfabrik bekam er monatlich lediglich 5.000 Yuan und meinte, das lohne sich ja gar nicht. Jetzt verdient er als stellvertretender Geschäftsführer 20.000 Yuan im Monat. Hätte er etwa nicht kündigen sollen? Lange blieben die Leute also nicht in der Elektronikfirma.
Nach zwei Monaten merkte ich, dass ich wenig für meinen Lohn tat. Ich kannte mich mit diesen Dingen nicht besonders gut aus und wenn es um technische Standards ging, musste ich oft andere fragen, bevor ich etwas erledigen konnte. Also entschied ich mich, den Job zu kündigen. So ein großes Unternehmen ist sehr chaotisch. Von außen scheint alles in geregelten Bahnen abzulaufen, aber in Wirklichkeit herrscht ein großes Durcheinander. Das war auch bei meiner Einstellung so. Ich sollte das nicht sagen, aber obwohl ich nicht mal für den Job als Produktionsarbeiter qualifiziert genug war, wurde ich trotzdem irgendwie eingestellt. Ich bin jemand, der Dinge, die mir aufgetragen werden, lieber selbst erledigt, als sie an andere weiterzugeben. Nur ungern frage ich andere um Hilfe. Die Bedingungen in der Elektronikfabrik lagen mir nicht. Den ganzen Tag lief ich ständig mit Material in den Händen herum, vom Erdgeschoss bis ins oberste Stockwerk. Ich hielt das für so sinnlos. Außerdem hatte ich bereits alles gesehen, und mein Ziel war es, aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven Eindrücke von der Gesellschaft zu sammeln.
Die grausame Firma aus Hongkong
Nachdem ich die Elektronikfabrik verlassen hatte, fing ich als einfacher Produktionsarbeiter in einer anderen taiwanesischen Fabrik mit etwa 3.000 Beschäftigten an. Dort wurden Sanitär- und Badezimmerausstattungen produziert, so was wie Badewannen, Duschen, Handtuchhalter, Seifenspender und so weiter. Von diversen Zulieferfirmen gebrachte Teile wurden dort montiert. Das war sehr anstrengend, zumal wir bei der Arbeit stehen mussten. Nach etwa einem Monat verließ ich die Firma wieder. Danach arbeitete ich innerhalb eines Jahres nacheinander und jeweils für kurze Zeit in sechs Fabriken. Durch die häufigen Stellenwechsel wollte ich verschiedene Managementformen kennenlernen, Erfahrungen sammeln und richtige Freunde finden.
Später arbeitete ich für einen Monatslohn von 2.500 Yuan im Lager einer Fabrik aus Hongkong, in der 3.000 Beschäftigte Transformatoren, Induktoren und elektrische Schalter herstellten. Dort erlebte ich, wie grausam eine Firmenleitung sein kann. Als ich an meinem ersten Arbeitstag den Arbeitsvertrag unterschrieb, war ich Zeuge eines Streits zwischen einer schwangeren Arbeiterin und einer Angestellten in der Personalabteilung. Die Arbeiterin beantragte Urlaub, um nach Hause fahren und sich dort auf die einen Monat später erwartete Geburt vorbereiten zu können. Die Angestellte schnauzte sie an und sagte, die Arbeiterin müsse zurück in ihre Abteilung gehen und die Unterschrift ihres Vorgesetzten einholen. Die Arbeiterin erwiderte, dass sie bereits drei Monate vorher ihre Kündigung eingereicht und drei Mal mit ihm gesprochen habe. Er habe bisher jedoch nicht zugestimmt und sie vielmehr ins Personalbüro geschickt. Die Angestellte bestand weiter darauf, dass sie noch einmal zum Vorgesetzten gehen müsse. Daraufhin fragte die Arbeiterin, wie oft sie denn noch hin und her laufen solle. Seit drei Monaten gab es nun schon dieses Gerenne und in nur einem Monat komme ihr Kind zur Welt. Sie müsse jetzt etwas auf sich aufpassen. Die Angestellte antwortete mit zwei Sätzen, die mich schockierten: „Wenn Sie das Kind hier und jetzt bekommen, kann ich Ihren Antrag sofort genehmigen. Da Sie das Kind nicht hier und jetzt bekommen, müssen Sie zurück an die Arbeit gehen!“ Die Arbeiterin erwiderte, dass die Firma doch auch eine neue Arbeiterin einstellen könne. Daraufhin sagte die Angestellte: „Wir haben momentan so viele Aufträge. Ich arbeite hier im Büro. Wollen Sie mir etwa sagen, dass ich die Aufträge selbst erledigen soll? Gehen Sie zurück an die Arbeit, sonst bekommen sie keinen Lohn!“ Das war’s. Die Arbeiterin fiel fast auf die Knie. Diese Szene hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck. Ich beschloss, Beweise gegen die Firma zu sammeln. Sie sollte dafür bezahlen.
Als Lagerist fielen mir etliche Missstände auf. So wurde den ArbeiterInnen Lohn vorenthalten, sie mussten ständig Geldstrafen zahlen, und viele Regeln und Vorschriften waren vollkommen unangemessen. Die ArbeiterInnen an den Produktionslinien mussten sehr hart arbeiten und wenn sie die strikten Produktionsvorgaben nicht erreichten, gab es Lohnabzüge. Manchmal wurde selbst der Grundlohn beschnitten. Falls jemand in einem Monat weniger als 22 Tage arbeitete – egal ob das die Firma verschuldete oder jemand anderes –, wurde zunächst der Grundlohn gesenkt und dann erst die Überstundenbezahlung berechnet. Ein Arbeiter hatte 26 Tage gearbeitet und bekam nur einen Lohn von 1.400 Yuan.
Ich wohnte außerhalb der Fabrik. Nach der Schicht hatte ich nur wenig mit den KollegInnen zu tun. Wir sprachen vor allem während der Arbeitszeit miteinander. Im Lager war immer was los. An jeder Linie arbeitete eine Transportarbeiterin, die Sachen ins Lager brachte oder dort abholte. Insgesamt waren es etwa ein Dutzend. Wenn sie nichts zu tun hatten, kamen sie und die LagerarbeiterInnen – ohne ihre Vorarbeiter – zu mir. Wenn ich mich bei der Arbeit ins Zeug legte, konnte ich mein Pensum in zwei oder drei Stunden erledigt haben und dann mit den KollegInnen diskutieren. Am meisten freie Zeit hatten wir jedoch während der abendlichen Überstunden. In den zwei Stunden gab es im Grunde nichts zu tun, sodass wir Probleme besprechen konnten. Anfangs wusste ich selbst nichts über die Arbeitsgesetze, musste also bei null anfangen und kaufte mir ein paar Bücher, um mir die Kenntnisse selbst anzueignen. Später erklärte ich den anderen die arbeitsrechtlichen Bestimmungen und wir besprachen, was wir tun können, wenn es Probleme mit der Kündigung gibt, keine schriftlichen Arbeitsverträge vorliegen oder der Chef die Löhne nicht auszahlt. Alle waren sehr erpicht darauf, diese Fragen zu diskutieren. Ich führte mit ihnen auch gestellte Bewerbungsgespräche durch, um ihnen zu helfen, bessere Jobs zu finden. Viele von ihnen waren qualifiziert, jedoch wenig redegewandt. Durch Vorstellungsgespräche konnten sie mehr Selbstvertrauen gewinnen und ihre Redekunst trainieren. Oft standen sieben oder acht Leute zusammen und eine Person musste vorne stehen und sich vorstellen. Alle waren voll und ganz bei der Sache. Wenn einer der Führungskräfte uns zur Rede stellte, sagte ich ihm, dass dies keinen Einfluss auf unsere eigentliche Arbeit hätte. So ließen sich die Einwände jedes Mal zurückweisen.
Von den ArbeiterInnen erfuhr ich, dass die Firma schon lange gegen Gesetze verstieß. Es hatte schon Proteste gegen die Lohnrückstände gegeben, aber lediglich in Form von Beschwerden oder Forderungen. Der Firmenchef hatte die Angelegenheit jedes Mal bereinigt und die Manager hatten gefragt: „Wohin soll Ihr Protest führen? So lösen Sie die Probleme doch wirklich nicht!“ ArbeiterInnen hatten auch mal die Autobahn blockiert, um die Behörden auf den Konflikt aufmerksam zu machen, aber auch das hatte letztendlich zu keiner Lösung geführt. Ich sagte den KollegInnen, dass nur eine Arbeitsniederlegung weiterhelfen könne. Erst wenn der Chef Angst bekomme, würde er die Probleme aus der Welt schaffen. Wir müssten also streiken. Just im Februar dieses Jahres ergab sich eine Gelegenheit. Die Widersprüche hatten sich weiter zugespitzt und ich spürte, dass die Zeit reif war. Ich fragte die TransportarbeiterInnen nach der Lage an den Produktionslinien und hörte eine tiefe Unzufriedenheit raus. Erstens hatten die ArbeiterInnen seit zwei Monaten keinen Lohn mehr gesehen und die Lohnauszahlung war unter allen möglichen Vorwänden immer wieder verschoben worden. Zweitens hatte das Management das Arbeitspensum enorm angehoben, ohne dass die ArbeiterInnen dafür entsprechend höhere Bezüge bekamen. Wenn sie die Vorgaben nicht schafften, mussten sie unbezahlt Überstunden schieben. Die 8:00-Uhr-Schicht musste bereits um 7:30 Uhr am Arbeitsplatz sein und mittags durfte man nicht um 12 Uhr, sondern erst um 13 Uhr Pause machen. Wann man abends rauskam, war vorher schlecht zu sagen. Drittens waren ihre Grundlöhne beschnitten worden und die Überstundenzuschläge wurden nun auf Grundlage dieser niedrigeren Grundlöhne berechnet. Auch wenn man von einem Grundlohn von 1.100 Yuan nur wenig abzog, konnte damit der Gesamtlohn beträchtlich sinken. Dieses Modell galt schon seit einiger Zeit.
Die Firma war seit zwei Monaten mit den Löhnen im Rückstand, weil sie blind expandierte und in Huizhou eine neue Fabrik errichtete. Das hatte zu Finanzierungsproblemen geführt, weshalb die Firmenleitung nun eiligst versuchte, an die Börse zu gehen. Als sie es das erste Mal versuchte, kam ihr der Streik in die Quere, und die zuständigen Stellen lehnten den Börsengang ab. Außerdem war eine Voraussetzung für die Zulassung an der Börse, dass das Management über eine gewisse Qualifikation verfügte. Dies war in dieser Firma nicht der Fall. Deswegen stellte sie kurz darauf 150 AbsolventInnen der Universität Wuhan ein und ließ nach außen verlauten, dass in der Firma nun viele hochqualifizierte Arbeitskräfte arbeiteten. Zusammen mit den bereits vorher beschäftigten verfüge sie jetzt insgesamt über mehr als 200 HochschulabsolventInnen. Als die über 150 hochqualifizierten neuen Angestellten ankamen, gab es jedoch gar nichts für sie zu tun. Sie saßen den ganzen Tag trinkend und essend herum. Die Firma organisierte dann Schulungen, aber die meiste Zeit saßen sie weiterhin untätig herum, ließen sich vom Ventilator kühle Luft zufächeln und machten dann Feierabend.
Zu jener Zeit reichte ein Kollege in den Mittzwanzigern seine Kündigung ein. Er hatte im Lager gearbeitet und bei einer Abrechnung am Computer einen Fehler gemacht. Die Firma strich ihm nicht nur seinen gesamten Lohn, sondern zwang ihn zudem, den Schaden mit seinem eigenen Geld auszugleichen. Hätte er sich geweigert, wäre er von der Firma vor Gericht gezerrt worden. Er kontaktierte alle möglichen Behördenebenen und schilderte die Situation, und es gab sogar Beamte, die den Fall untersuchten. Die Firmenleitung machte jedoch hinter den Kulissen ihren Einfluss geltend, sodass die Untersuchungen eingestellt wurden. Er war wütend und wartete vor der Stadtverwaltung, um das Auto des Bürgermeisters anzuhalten. Zwei Monate lang stand er da, bis es ihm schließlich gelang. Die Stadtverwaltung rief dann die Bezirksverwaltung in Bao’an an, und das Problem wurde sofort gelöst. Am Nachmittag desselben Tages holte ihn der Firmenchef mit dem Auto ab und fuhr ihn in die Firma, wo er ihm seinen Lohn auszahlte.
Wenn dein Firmenchef Geld hat, deinen Lohn aber nicht rausrückt, hast du als einfache Produktionsarbeiterin heute die Energie, dafür überall hinzurennen, und vielleicht hast du morgen auch noch diese Energie, aber was, wenn sich die Sache in die Länge zieht? Dann denkst du noch mal drüber nach, ob es das wert ist, wegen 1.000 Yuan zwei Monate lang nicht zu arbeiten. Wenn du dir eine andere Arbeit suchen würdest, hättest du das Geld bald wieder reingeholt. Als jener Lagerist sagte, er werde das Auto des Bürgermeisters anhalten, johlten alle seine Kollegen. Als es dann wirklich passierte, schauten die meisten dem Spektakel bloß zu und sagten, dass sie für 1.000 Yuan nicht so viel Zeit und Energie aufwenden würden. Das zahle sich nicht aus. Später hörte ich wiederholt, dass Kündigungsanträge von KollegInnen nicht bewilligt worden waren. Die Leute gingen dann ohne Genehmigung, einmal sogar eine ganze Produktionslinie. Dreißig ArbeiterInnen hauten einfach ab! Am nächsten Tag erschien der Gruppenleiter als einziger zur Arbeit.
Als nun der Lohn zwei Monate lang nicht bezahlt worden war, beschloss ich zu streiken. Meiner Meinung nach mussten wir die Produktionslinien lahmlegen, um der Firmenleitung klar zu machen, dass etwas nicht stimmte.
Der Streikverlauf
An einem Nachmittag im Lager machte ich mit den ArbeiterInnen aus, dass sie auf mein Signal warten und dann die Linien sowie die Hauptsicherung der Stromversorgung abschalten sollten, sodass die Produktion zum Stillstand kommt. Die Waren für die Kunden mussten täglich ausgeliefert werden, nur so konnte der nächste Produktionszyklus eingeleitet werden. Meine Aufgabe war es, nach einer Liste die Waren für die Kunden zusammenzustellen. Ich hatte vor, nun nichts mehr rauszuschicken, und selbst wenn der Fabrikleiter kommen würde, wollte ich nicht nachgeben, solange er mich nicht kündigt.
Als die TransportarbeiterInnen am nächsten Tag sahen, dass ich keine Waren mehr zusammenstellte und rausschickte, liefen sie zurück und informierten die Leute an den Produktionslinien. Sofort tauchte der Fabrikleiter mit einem Dutzend Werkschützer auf und sie kreisten mich ein. Die anderen LagerarbeiterInnen hatten vorher fest auf meiner Seite gestanden, aber als das Dutzend Werkschützer auf mich zustürzte und mich in eine Ecke drängte, hielten sie sich abseits und schauten dem Spektakel bloß zu. Ich fühlte mich verraten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Produktionslinien und die Hauptsicherung bereits abgeschaltet und die Produktion gestoppt. 3.000 ArbeiterInnen hatten die Arbeit niedergelegt und die Firma verlor nun in jeder Stunde eine Menge Geld. Einige ArbeiterInnen hatten sich lange Stöcke besorgt und niemand wagte, die Hauptsicherung wieder anzuschalten – aus Angst, verprügelt zu werden. Kaum zwanzig Minuten später wurde der Manager angerufen und angewiesen, schnell in die andere Halle zu kommen. Dort hatte der Streik schon viel größere Ausmaße angenommen. Wir liefen alle hinüber. Die ArbeiterInnen verlangten nichts Konkretes. Die einen sagten dies, die anderen das. Ich formulierte dann drei Forderungen. Erstens müssen die zwei ausstehenden Monatslöhne ausgezahlt werden, zweitens müssen die vielen eingereichten Kündigungen bewilligt werden, und drittens sind die Produktionsvorgaben zu hoch, und falls sie nicht rechtzeitig erledigt werden können, muss die Extrazeit als Überstunden gerechnet werden. Das obere Management setzte nun eilig eine Versammlung an und willigte ein, die ausstehenden Löhne innerhalb von zwei Tagen auszuzahlen. Der Firmenchef wollte auch die Löhne der ArbeiterInnen begleichen, die bereits gekündigt hatten. Diese sollten sich melden und würden ihren Lohn erhalten.
Noch am selben Nachmittag entließ die Firma mehr als zwanzig AnführerInnen. Sie bekamen ihre Lohnabrechnung und mussten sofort gehen. Es war eigenartig, dass ich nicht auch gefeuert wurde. Alle Gekündigten waren einfache ProduktionsarbeiterInnen von den Linien, die sich aus Wut am Streik beteiligt hatten. Die Führungskräfte hatten nicht am Streik teilgenommen, weil sie höhere Löhne bekamen. Für sie war es nicht leicht gewesen, ihre Stellung zu erreichen, weswegen sie sich nicht an die Seite der ArbeiterInnen stellen wollten. Der Lagerleiter hatte den Streik zunächst unterstützt, aber als er das Dutzend Werkschützer hereinkommen sah, setzte er sich sofort von unserer Gruppe ab. Während ich von den Werkschützern festgehalten wurde, war er der erste, der vortrat und sagte, er habe das stoppen wollen, aber ohne Erfolg. Am Schluss entließ ihn die Firmenleitung jedoch als ersten. Die Büroangestellten hatten ebenfalls nicht am Streik teilgenommen, sie hatten ja einen ruhigen Job.
Die Lager- und TransportarbeiterInnen, mit denen ich den Streik geplant hatte, waren anfangs über die Ungerechtigkeiten empört, stellten Kontakte her und spielten eine verbindende Rolle, aber als es ernst wurde, schreckten sie zurück und sahen dem Spektakel nur zu. Sie meinten wohl, wenn sie nur etwas Lärm machten, würden alle bekommen, was sie verlangten. Gleichzeitig dachten sie an ihre Zukunft in der Fabrik, befürchteten sie doch, dass Firmenchef und Führungskräfte ihnen das Leben schwer machen würden. So gab es alle möglichen Bedenken und die Mehrheit hatte in erster Linie ihre eigenen Interessen im Blick. Verrückte wie ich liefen voran und lösten die Probleme, die zu lösen waren. Ich bin froh, dass für viele Leute Verbesserungen durchgesetzt werden konnten.
Nach dem Streik versuchten meine Vorgesetzten, mich mit allen Mitteln einzuschüchtern. Meine Weigerung, die Waren rauszuschicken, hatte der Firma großen Schaden zugefügt. Die Manager behandelten mich noch vergleichsweise höflich, während der Firmenchef mich als „Wehrkraftzersetzer“, „Terrorist“ und „Feind Nummer Eins“ bezeichnete. Er schmiss mich nicht sofort raus, weil er Angst hatte, dass ich Stress machen würde. Er setzte jedoch alles daran, mir das Leben schwer zu machen. Klar, wäre ich der Chef, hätte ich lieber auch keinen solchen Unruhestifter in der Firma. Nach dem Streik wurde mein Arbeitspensum erhöht. Der Firmenchef sagte: „Sie haben doch eine Menge Fähigkeiten, da können Sie doch auch mehr arbeiten!“ Schon bei meinem Arbeitsantritt hatte ich alleine die Arbeit von Zweien machen müssen, und das war schon anstrengend. Nun wollte der Chef weitere Leute einsparen, und ich sollte die Arbeit von Dreien erledigen. Es war hart, aber ich legte mich richtig ins Zeug und schaffte es. Später, nach nur etwa einen Monat in dieser Fabrik, kündigte ich.
Erfahrungen
Der Streik war eine gute Erfahrung. Die unmittelbare Unterbrechung der Produktion erwies sich als das effektivste Mittel. Wenn man sich bloß mit dem Chef zusammensetzt und verhandelt, führt das nur zu endlosen Gesprächen ohne Ergebnis. Vor ein Arbeitsgericht zu ziehen, macht auch wenig Sinn. Nur die Unterbrechung des Produktionsablaufs setzt den Chef wirksam unter Druck und zwingt ihn, die Sache ernst zu nehmen. Ein Großteil der Gesetze ist für die Reichen gemacht. Ich habe zwar auch schon von Fällen gehört, bei denen es einigermaßen gerecht zuging, aber der Faktor Mensch spielt eine entscheidende Rolle, und gewisse Menschen wissen die Gesetze zu manipulieren. Sind sie auf sich alleine gestellt, müssen ArbeiterInnen auf die Einhaltung der Gesetze vertrauen. Wenn sich eine Gruppe von ihnen zusammenrauft und gemeinsam rechtliche Schritte einleitet, sieht die Sache ein bisschen besser aus. Wendet man sich an die zuständigen Behörden, sagen die nur, dass sie gar nichts ausrichten können. So arbeitet das System in China, daher ist es allemal besser, gleich den Produktionsprozess zu stoppen. Selbst Leute von der Arbeitsbehörde sagen dir, dass du die Arbeit niederlegen sollst! Wenn du die Produktion anhältst, verdient die Firma kein Geld mehr und gerät unter Druck, sodass es schneller zu einer Lösung kommt. Bisher dachte ich, dass es am besten wäre, nur die Produktion zu unterbrechen, aber jetzt glaube ich, dass eine Gruppe gleichzeitig gemeinsam rechtliche Schritte einleiten sollte. Damit macht man jedenfalls nichts falsch, und wenn die Firmenleitung viel Geld ausgibt, um uns vor Gericht zu besiegen, können wir warten, bis sie ihr ganzes Geld ausgegeben hat, und dann die Produktion stoppen.